Verheerende Bilanz nachher 1.000 Tagen Ukraine-Krieg
Mehr als 12.000 getötete Zivilisten, Zehntausende gefallene Soldaten und gut 300.000 Kriegsversehrte allein auf ukrainischer Seite sowie Dutzende zerstörte Städte und Dörfer gehören zur bisherigen Bilanz der russischen Invasion. 1.000 Tage dauert Russlands Angriffskrieg am 19. November, die geschätzten Kriegsschäden in der Ukraine liegen bei über 750 Milliarden Euro.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat inzwischen mehrere Pläne zur Beendigung des Konflikts vorgelegt. Zur Lage vor dem dritten Kriegswinter und den Aussichten für eine Friedenslösung.
Die Lage für die ukrainischen Truppen wird entlang der Front immer kritischer. Hauptproblem ist dabei weniger der fehlende Nachschub an Munition und Waffen. Kiew fehlen trotz einer verschärften Mobilmachung vor allem motivierte Soldaten.
10.000 Deserteure im Oktober
Die Zahl der Deserteure wächst. Von über 60.000 Fällen in diesem Jahr wurden knapp 10.000 allein im Oktober registriert. Die Dunkelziffer soll Beobachtern zufolge noch weit höher liegen. Dazu kommen die Verluste durch Tod, Verwundung oder Gefangenschaft. Größere russische Frontdurchbrüche könnten nur eine Frage der Zeit sein.
Selenskyj rückt derweil offiziell von seiner im Herbst 2022 präsentierten „Friedensformel“ nicht ab. Kernforderung bleibt ein kompletter Abzug der russischen Truppen vom international anerkannten Staatsgebiet in den Grenzen von 1991.
Militärischer Weg aussichtslos
Da dies auf militärischem Weg aussichtslos erscheint, gesteht Selenskyj nur zu, dass nicht alle besetzten Gebiete zurückerobert werden müssen. Sie könnten auch auf dem Verhandlungsweg zurückgeholt kommen. Wie das genau geschehen soll, ließ er allerdings offen.
Zudem lehnt Kiew den von Moskau geforderten Verzicht auf den in der Verfassung verankerten Nato-Beitritt ab. Mit seinem in diesem Herbst präsentierten „Siegesplan“ erhöhte Selenskyj den Einsatz noch und verlangt von den westlichen Verbündeten bereits während des Krieges eine Einladung in das Militärbündnis Nato.
Stetige Geländegewinne
Seit der Eroberung der Festung Awdijiwka bei Donezk zu Jahresbeginn sind die russischen Soldaten etwa 40 Kilometer nach Westen vorgerückt. Die Geländegewinne sind gering, aber stetig.
Vor dem Fall steht die strategisch wichtige Stadt Kurachowe im südlichen Donbass. Stark bedroht sind auch Pokrowsk, Tschassiw Jar und Torezk. Im Norden bröckelt die Front entlang des Flusses Oskil. Sollte der wichtige Eisenbahnknoten Kupjansk fallen, dann dürften die russischen Truppen auch Lyman wieder einnehmen und das letzte unter Kiews Kontrolle stehende Ballungsgebiet im Donbass um Slowjansk bedrohen.
Über 115.000 russische Soldaten gefallen
Allerdings sind Moskaus Verluste gewaltig. Genaue Zahlen gibt es nicht, westlichen Schätzungen nach sind inzwischen über 115.000 russische Soldaten gefallen und mehr als eine halbe Million verwundet, mit zuletzt steigender Tendenz. Das begrenzt langfristig das Eroberungspotenzial der Russen.
50.000 Soldaten haben die Russen im Grenzgebiet Kursk zusammengezogen, darunter auch etwa 10.000 nordkoreanische Kämpfer. Ziel ist es, mit einer Großoffensive die Ukrainer bis zum Amtsantritt von Donald Trump in den USA aus dem Land zu vertreiben.
Keinesfalls will Kremlchef Wladimir Putin bei einem möglichen Einfrieren des Krieges kernrussisches Gebiet aufgeben. Bislang sind die russischen Angriffe allerdings bei hohen Verlusten ohne größeren Erfolg verlaufen.
Überraschende Entscheidung von US-Präsident Biden
Möglicherweise schafft es die Ukraine, die Positionen zu halten und die russischen Truppen zu stoppen. Die überraschende Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, der Ukraine den Einsatz von Waffen mit großer Reichweite gegen militärische Ziele auf russischem Staatsgebiet zu erlauben, könnte die russische Angriffswelle bei Kursk bremsen. Später dürfte die Ukraine mit diesem neuen „Freifahrtschein“, um den Selenskyj monatelang gebeten hat, auch andere militärische Ziele in Russland ins Visier nehmen.
Moskau betont zwar immer wieder Verhandlungsbereitschaft, stellt aber knallharte Bedingungen. Putin unterstrich zuletzt mehrfach, dass Kiew nicht nur den Nato-Beitritt abschreiben, sondern auch auf die besetzten Gebiete verzichten müsse. Aufhorchen ließ der Kremlchef, als er beim politischen Waldai-Diskussionsforum Anfang des Monats sagte, die Menschen in den von Russland kontrollierten Gebieten sollten selbst bestimmen, bis wohin die Grenze geht.
Eigenständiges Land mit eigener Identität
Konstantin Remtschukow, Chefredakteur der russischen Tageszeitung Nesawissimaja Gaseta, schrieb unlängst, im Kreml sei das Bewusstsein gereift, dass die Ukraine ein eigenständiges Land mit eigener Identität ist. Ein Land, in dem viele mit Russland nichts mehr zu tun haben wollen.
Es klang wie eine Bestätigung dieser These, als Putin beim Waldai-Forum bemerkte, dass die Ukraine als „souveränes und unabhängiges Land“ eine Zukunft habe, aber nur, wenn sie neutral bleibe und sich nicht zu einem gegen Russland gerichteten Werkzeug des Westens machen lasse. Zugleich ließ er durchblicken, dass er etwa zu einem Deal mit dem designierten US-Präsidenten Donald Trump bereit sei.
20 Jahre keinen Nato-Beitritt
Trump selbst äußerte sich bisher nicht dazu. Das Wall Street Journal berichtete aber von Ideen aus seinem Umfeld. Eine davon ist demnach, dass die Ukraine sich verpflichten solle, mindestens 20 Jahre lang nicht der Nato beizutreten, um weiter US-Militärhilfe zu bekommen.
Auch ist von einer entmilitarisierten Zone entlang des Frontverlaufs die Rede. Sichern sollen die Zone nicht Amerikaner, sondern Europäer, hieß es unter Berufung auf informierte Personen. Die Quellen der Zeitung schränkten zugleich ein, dass letztlich Trump über das US-Vorgehen entscheiden werde.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass die US-Hilfen für die Ukraine reduziert werden könnten, auch um die Ukraine zu Verhandlungen zu zwingen. Mit Trumps Wahlsieg kommen jetzt Republikaner an die Macht, die schon lange behaupten, die USA gäben zu viel Geld zur Unterstützung der Ukraine aus.
Ära der Ukraine-Blankoschecks vorbei
So schrieb Trumps voraussichtlicher Nationaler Sicherheitsberater Mike Waltz im vergangenen Jahr mit Blick auf die republikanische Mehrheit im Abgeordnetenhaus: „Die Ära der Blankoschecks für die Ukraine vom Kongress ist vorbei.“ Zugleich meinte er aber, die USA hätten gegen Russland das Druckmittel, die Einschränkungen für den Einsatz an die Ukraine gelieferten amerikanischen Waffen aufzuheben.
Zudem könnte Tech-Milliardär Elon Musk, der aktuell viel Zeit mit Trump verbringt, Einfluss auf die künftige Ukraine-Politik haben. Musk und sein Vertrauter David Sacks sprechen sich schon lange für ein rasches Ende des Krieges aus. Musk preschte vor zwei Jahren auch mit einem eigenen Friedensplan vor. Dazu gehörten Volksabstimmungen in den von Russland besetzten Gebieten, die sie faktisch in russischer Hand verankert hätten.
Unverbrüchliche Hilfe Deutschlands
Der deutsche Kanzler Olaf Scholz hat der Ukraine erneut unverbrüchliche Hilfe zugesichert. Zwar ist die weitere Ukraine-Hilfe auch abhängig vom Ausgang der vorgezogenen Bundestagswahl im Februar, aber selbst bei einem Wahlsieg der in den Umfragen führenden CDU gilt ein deutscher Unterstützungskurs als wahrscheinlich.
Die deutsche Unterstützung dürfte sogar noch zunehmen, wenn ein möglicher Kanzler Friedrich Merz (CDU) seine Drohung wahrmacht und Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine liefert, um so militärische Ziele im russischen Hinterland zu treffen. Scholz, der am Freitag selbst erstmals seit fast zwei Jahren wieder mit Kremlchef Putin telefoniert hatte und den Dialog mit Moskau fortsetzen will, lehnt das weiter kategorisch ab.
Warnung vor Diktatfrieden
Bisher ist ein Ende des Krieges nicht in Sicht, zunehmend ist aber von einer diplomatischen Lösung die Rede, auch von Präsident Selenskyj. Kanzler Scholz warnt in diesem Zusammenhang vor einem Diktatfrieden und betont, eine Lösung sei nur im Einvernehmen mit Kiew möglich.
Russland betont hingegen, dass der Krieg so lange weitergehe, wie die USA und andere westliche Verbündete der Ukraine weiter Waffen liefern würden. Und so lange Kiew das Ziel ausgebe, Moskau eine strategische Niederlage zufügen zu wollen.