„In dieser aktiven Verwesung schwappt viel Körperflüssigkeit hervor“

Der Kadaver-Ökologe Christian von Hoermann hat einen toten Wisent im Wald ausgelegt. Er erzählt von Verwesungsprozessen, die bei Tieren und bei Menschen ganz ähnlich sind. Und er hat eine Entdeckung gemacht, die für Forensiker enorm wichtig ist.

Christian von Hoermann, 47, arbeitet als Kadaver-Ökologe am Lehrstuhl für Naturschutzbiologie und Waldökologie der Universität Würzburg. Er beschäftigt sich mit Verwesungsprozessen an Tieren. Er schwärmt von „Hotspots der Biodiversität“. 2023 im Nationalpark Bayerischer Wald wurden an 29 Kadavern 92 Käfer- und 3726 Pilzarten nachgewiesen.

WELT: Sie haben im Sommer einen toten Wisent im Sumava-Nationalpark in Tschechien ausgelegt. Warum?

Christian von Hoermann: Der Wisent kam vom Nürnberger Zoo. Anstatt es an Raubtiere im Zoo zu verfüttern hatten wir die Idee, so ein Tier in seinen natürlichen Lebensraum zurückzubringen.

WELT: Freie Wisente gibt es nur wenige, vor allem in Polen.

Hoermann: Der Wisent lebte einst im Bayerischen Wald und im angrenzenden Sumava-Nationalpark in Tschechien, ist aber seit mindestens 200 Jahren in der Region ausgestorben. Im Rahmen einer Wiederansiedlung würden die großen Weidegänger mehr Biodiversität schaffen. Darüber muss aber noch diskutiert werden. Wir wollten das von hinten aufrollen: Wenn so ein Tier mal stirbt in der Natur, was für einen Mehrwert hat es?

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WELT: Wie sind Sie an das Tier gekommen?

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Hoermann: Der etwa ein Jahr alte Bulle wurde im Zoo tierschutzrechtlich getötet; die Herde wächst natürlich, und es muss entnommen werden. Es wurde eingefroren und zu uns gebracht. 290 Kilogramm schwer, relativ leicht für einen Wisent. Die weiblichen Tiere wiegen oft eine halbe Tonne.

WELT: Haben Sie den Ort vorher untersucht, wie viele Tiere, Organismen, Pilze schon dort sind?

Hoermann: Genau. Wir haben neben Insektenfallen auch Videokameras und eine Fotofalle aufgestellt, dazu einen Batcorder für die Fledermäuse und eine Soundbox – der Klang der Biodiversität findet immer mehr Beachtung. 100 Meter weiter gab es die gleiche Situation noch mal, nur ohne Kadaver, zum Vergleich. Es hat niemand etwas mitbekommen, wir gehen mit den Kadavern immer weit weg von irgendwelchen Wanderwegen.

WELT: Saßen sie da jeden Tag?

Hoermann: Wir haben ein festes Schema. Anfangs kommen wir alle zwei Tage. Wir leeren die Becher mit Insektenfallen, nehmen Bodenproben unter dem Wisent, weil wir schauen, wie sich das bakteriell und von den Pilzen her verändert. Und wir machen Abstriche an der Maulschleimhaut, um auch die Bakterien vom Tier zu bekommen. Später sind wir einmal die Woche dort.

WELT: Können Sie Gewichtsverlust dokumentieren?

Hoermann: Wiegen ist ein Problem. Für Wildschweine haben wir mal aufwendig Wagen gebaut und die Schweine hochgekurbelt. Man ändert dadurch aber viel, die Maden fallen etwa runter; die haben natürlich sehr viel Biomasse. Wir schauen uns die Zersetzungsrate an: Was wiegt es am Anfang und nach wie viel Tagen beobachten wir die Skelettierung? In einem Habitat ist das bei einem Reh nach sechs Tagen der Fall, im anderen erst nach 16 Tagen. Der größte Teil des Wisents war nach einem Monat weg.

WELT: Wie funktioniert das?

Hoermann: Die große Biomasse ist die Flüssigkeit, die sickert aus dem Körper als Nährstoff für die Botanik. Das Zytoplasma, das in den Zellen gebunden ist, entweicht nach dem Tod. Durch Gasbildung entsteht ein relativ hoher Druck, der Körper reißt auf, in dieser Phase der aktiven Verwesung schwappt ziemlich viel Körperflüssigkeit heraus.

WELT: Was tragen die Insekten zum Gewichtsverlust bei?

Hoermann: Eine einzige Fliegenmade benötigt zwei Gramm Fleisch für ihre Gesamtentwicklung. Wenn etwa 100 Fliegen auf dem Kadaver landen, jede legt ungefähr 200 Eier ab, und jede Made frisst, dann ist die Biomasse relativ schnell weg. Dieser Großteil geht mit den geschlüpften Fliegen in die Luft, 300 Kilogramm Tier sind aufgearbeitet und der Wald wieder frei. Die Haut ist mumifiziert, auch das Fell ist noch da. Aber Speckkäfer können auch diese Teile verarbeiten. Kadaver liefern vier Kilogramm Stickstoff pro Quadratmeter Boden, dazu weitere Spurenelemente, das bringt für die Pflanzengemeinschaft einen enormen Mehrwert.

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WELT: Wie riecht es denn?

Hoermann: Ich arbeite schon sehr lange mit den Kadaverdüften, ich habe darüber promoviert. Ein Wisent riecht wie jeder Kadaver, wegen der Behaarung etwas schwefeliger als ein Hirsch oder ein Reh. Es ist eben tierische Muskelmasse, tierisches Protein. Tote Schweine riechen anders, sie haben mehr Borsten, da sind mehr von diesen Oligosulfiden dabei, Schwefelketten.

WELT: Ändert sich der Geruch?

Hoermann: Am Anfang riecht es eher nach Fäulnis, zuerst finden die anaeroben Prozesse im Tier statt. Es bläht sich durch die mikrobielle Gasbildung, dann öffnet sich der Kadaver, da kommt Sauerstoff dazu und wir haben die Verwesungssubstanzen. Wenn das Fett sich zersetzt, kommen die Buttersäure-Derivate. Der Geruch bleibt nie gleich über die Zeit. Das ist für mich wichtig, weil ich schon anhand des Geruchs weiß, welche Besiedler dann kommen.

WELT: Düfte ziehen bis zu drei Kilometer weit Tiere an.

Hoermann: Bei den Schmeißfliegen ist es tatsächlich so. Ihre Antennen können Einzelmoleküle wahrnehmen, und sie fliegen dann gegen den Wind. Wir hatten mal eine Studie mit Uferaaskäfern, die haben wir markiert. Sie schaffen im Extremfall mehr als 20 Kilometer, fliegen über die Baumwipfel. Das sind unglaubliche Distanzen, selbst Hunde würden nie solche Entfernungen schaffen.

WELT: Welche großen Tiere haben am Wisent gefressen?

Hoermann: Bisher tatsächlich keine. Die Insekten sind im Sommer sehr schnell am Werk und machen das so unangenehm, dass große Aasfresser oft gar nicht hingehen. Auch die Kolkraben kommen oft erst ab November zu den Kadavern. Wir rechnen damit, dass Luchs oder Wolf vorbeischauen und sich die großen Knochen holen; das Knochenmark ist sehr energiereich. Es war ein Wolfsrudel ganz in der Nähe, aber da hat sich kein einziges Tier blicken lassen. Große Aasfresser jagen im Sommer selbst.

WELT: Sie haben auf dem Kadaver die Schmeißfliege Chrysomya albiceps gefunden. Wo kommt die her?

Hoermann: Ursprünglich kommt es sie aus Mittel- und Südamerika. Es gibt eine Arbeit von 2003, die hatte Deutschland noch völlig leer gezeigt. Zwei Biologen vom Bayerischen Landeskriminalamt fanden sie dann 2012 im Botanischen Garten in München. Jetzt müsste sie in Deutschland relativ flächendeckend sein. Unser Wisent lag auf 930 Meter, das ist für eine invasive tropische Art erstaunlich hoch.

WELT: Und was macht diese Schmeißfliege so besonders?

Hoermann: Fliegen haben drei verschiedene Entwicklungsstadien. Chrysomya albiceps frisst in ihrem ersten Stadium ganz normal an den Kadaverflüssigkeiten. Der entscheidende Unterschied: Im zweiten und dritten Stadium ist sie räuberisch und frisst andere Fliegenmaden. Das ist für die Forensik interessant, sie kann nämlich „Beweismaterial“ weggefressen. Die Insekten an Leichen sind ja wichtig für Forensiker, um die postmortale Liegezeit von Körpern zu schätzen. Diese Fliege hat das Potenzial, auf solche Untersuchungen einzuwirken. Deshalb ist es wichtig zu wissen, wo sie vorkommt.

WELT: Das klingt problematisch.

Hoermann: Ganz so ist es nicht. Aufgrund ihrer spezifischen Temperaturansprüche kann die Fliege auch hilfreich sein. Man setzt im Labor zum Beispiel diese ChrysomyaMaden zu anderen Schmeißfliegen-Arten und schaut, wie sie reagieren. Die Maden können etwa ihre Entwicklungszeiten aufgrund von Konkurrenz ändern. Über einen möglichen Korrekturfaktor in den Liegezeit-Schätzungen könnte in Zukunft nachgedacht werden. Das muss aber noch in Folgestudien überprüft werden.

WELT: Das betrifft auch Menschenleichen?

Hoermann: Chrysomia ist schnell vor Ort, als eine der ersten Insektenarten, sie riecht Kadaver ebenfalls über große Distanzen. Wenn die Fliege etwa im Botanischen Garten ist, kann sie auch durch gekippte Fenster anliegender Wohnungen fliegen. Es gab schon vor 20 Jahren eine Arbeit dazu, da ging es um eine Leiche in einer Wohnung in Wien. Auf den Forensiker-Tagungen ist Chrysomia immer ein Thema. Wichtig ist im Endeffekt, dass ein Ermittler am Tatort weiß, wie diese Larven aussehen. Sie haben so Stöpsel, fleischige Fortsätze, die andere Fliegenmaden nicht haben.

WELT: Geht das Zersetzen von menschlichen Leichen eigentlich langsamer als bei Wildkadavern?

Hoermann: Kommt auf das Gewicht an. Ein weibliches Rotwild wiegt oft 80 Kilogramm, die Männchen oft über 100 Kilo, da sind die Zersetzungszeiten sehr ähnlich. Wildschwein hat eine dicke Schwarte, das braucht ein bisschen länger. Ein Mensch liegt vielleicht in der Wohnung, ist bekleidet, die Zersetzung funktioniert aber genauso. Die Insekten kommen beim Menschen wie bei Wildtieren, weil die Muskulatur die gleiche ist. Fliegen und Käfer riechen die gleichen Aminosäure-Reste und Alkohole.

WELT: Ich muss einfach fragen, essen Sie eigentlich Wild?

Hoermann: Ich selber ja. Ich habe gerade Wildschweinsalami an einem Kadaver dabeigehabt, wir machen Brotzeit danach. Für eine Hackfleisch-Studie haben wir mal Fliegenmaden auf das Fleisch gesetzt. Da konnten einige Leute längere Zeit kein Fleischpflanzerl mehr essen. Ich finde es faszinierend, dass da so viel daran lebt und gar nicht tot ist. Wenn man es so rein wissenschaftlich betrachtet, dann bleibt sogar der Appetit.

Source: welt.de