Bundespolitiker c/o jener Verleihung des Friedenspreises
Als 2010 der israelische Schriftsteller David Grossman den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, musste die damalige Bundesbildungsministerin Annette Schavan in der Paulskirche in der zweiten Reihe Platz nehmen. Vor ihr repräsentierte Bundespräsident Christian Wulff in höchsteigener Person den Staat, neben ihm zudem sein späterer Nachfolger Joachim Gauck, der ihm drei Monate zuvor in der Bundesversammlung noch unterlegen war.
Die derzeitige Bildungsministerin war am Sonntag besser platziert als vor vierzehn Jahren Schavan, die 2013 wegen der Plagiatsaffäre um ihre Doktorarbeit zurücktreten musste. Als höchstrangige Vertreterin des Staates bei der Ehrung von Anne Applebaum konnte Bettina Stark-Watzinger, die auch Vorsitzende der hessischen FDP ist, dem Fernsehpublikum demonstrieren, dass sie trotz der Affäre um in ihrem Haus angelegte Namenslisten missliebiger Forscher und den Maulkorb für ihre geschasste Staatssekretärin Sabine Döring immer noch im Amt ist.
Entspannung für die Berliner Ehrengäste
Neben ihr in der ersten Reihe saß Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die sich ebenfalls vom Ärger in der eigenen Behörde ablenken durfte – Entspannung mag die Dankesrede den beiden Berliner Ehrengästen wenigstens insofern geboten haben, als Applebaums Kritik an der Außenpolitik der Bundesregierung nicht in erster Linie an die Verwalterinnen von Mangel und Übereifer in Kulturverwaltung und Wissenschaftssteuerung adressiert war.
Die für Äußeres und Verteidigung verantwortlichen Ressortchefs waren abwesend, obwohl Radosław Sikorski, der Außenminister der Republik Polen, in seiner Eigenschaft als Ehemann der Preisträgerin anwesend war. Kein fachlich zuständiges Mitglied der Bundesregierung musste sich auf den Ehrenplätzen der diplomatisch heiklen Abwägung widmen, wann das Sparen mit Applaus unhöflich gewesen wäre und das Spenden die Grenze zur Heuchelei überschritten hätte.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der in Applebaums neuem Buch über die „Achse der Autokraten“ im relativ harmlosen Zusammenhang der Achse Gazprom–Schalke erwähnt wird, wäre, wie vom Börsenverein zu erfahren ist, wegen seiner langjährigen Bekanntschaft mit dem Ehepaar Applebaum-Sikorski eigentlich gerne gekommen und ließ ein Glückwunschschreiben überreichen. Soll man die Politik des leeren beziehungsweise rangnieder gefüllten Stuhls als Indiz für die Mentalität der Drückebergerei deuten, die Applebaum den deutschen Staatsmännern mit ihrer stählernen Engelszunge auszureden versucht?
Die Teilnahme hoher Prominenz ist langfristig rückläufig
Das Studium der Anwesenheitslisten beim Friedenspreis im Vergleich über 74 Jahre bewahrt vor einem solchen Kurzschluss einer pragmatischen, voreilig Hintergedanken von Akteuren postulierenden Historie. Der Rückgang des Interesses ranghoher Politiker an persönlicher Teilnahme ist ein langfristiger Trend, zeigt eine Verschiebung protokollarischer Bräuche an.
Dass der Friedenspreis in den jungen Jahren der Bundesrepublik so etwas wie der Ersatz für einen Staatspreis in der provisorischen Republik wurde, war das Verdienst des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss, der einen eminenten Sinn für symbolische Handlungen in sein Amt mitbrachte, dem er dadurch auch eine selbständige Stellung neben dem Bundeskanzler verschaffte. 1951, im zweiten Jahr des Preises, bei der ersten Verleihung in Frankfurt und während der Buchmesse, hielt Heuss die Laudatio auf Albert Schweitzer. Er war 1953, 1954 (erneut als Laudator), 1955 und 1958 anwesend, bevor er 1959 nach seinem Ausscheiden aus dem Amt selbst den Preis erhielt.
1958, als Karl Jaspers ausgezeichnet wurde, gehörte die Mitwirkung des Staatsoberhaupts schon zum Ritual. So schilderte jedenfalls der Berichterstatter der F.A.Z. die Szene: „Wenn der Bundespräsident mit seinem Gefolge die Paulskirche betritt und sich das Plenum erhebt, wenn bei der Preisverleihung die Kameras blitzen und surren, wenn vom Rednerpult in der Paulskirche Appelle gerichtet werden, so sehen darin alle, die diesen Vorgang direkt oder indirekt über das Fernsehen miterleben, eine großartige Reverenz vor dem im Frankfurt nun schon tagelang gefeierten Buch, zu dessen Ehre das alles stattfindet.“ Die Abwesenheit des Bundespräsidenten macht die Zeremonie automatisch informeller, wie jetzt am Sonntag zu erleben war. Die Preisträgerin und ihr Mann nahmen ihre Plätze ein, ohne vom Publikum bemerkt worden zu sein. Niemand hatte sich erhoben.
Lübke lobte einen Linken
Der Nachfolger von Heuss, der konservative Christdemokrat Heinrich Lübke, der nicht in dem Ruf stand, ein Näheverhältnis zu geistigen Gegenständen zu pflegen, setzte die vom ersten Bundespräsidenten begründete Tradition der intellektuellen Beteiligung des informellen Schirmherrn fort: 1960 trug er die Laudatio auf den linken Londoner Verleger Victor Gollancz vor. 1964, 1966 und 1968 saß Lübke wieder in der Paulskirche, so auch sein Nachfolger Gustav Heinemann 1969, 1970 und 1973. Die Bundespräsidenten Walter Scheel und Karl Carstens wahrten den Rhythmus regelmäßiger, wenn auch nicht ständiger Anwesenheit. Als Carstens 1982 der Verleihung an George Kennan wegen eines Staatsbesuchs in China nicht beiwohnen konnte, wurde das der Öffentlichkeit vorher mitgeteilt, sicher mit Rücksicht auf das hohe Ansehen des amerikanischen strategischen Denkers, der allerdings inzwischen als Kritiker der NATO-Doktrinen und damit auch der Rüstungspolitik der deutschen Bundesregierung wahrgenommen wurde.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker war bei allen zehn Verleihungen seiner zwei Amtszeiten zugegen. Unter ihm erreichte die für die alte Bundesrepublik charakteristische symbolische Symbiose von Kultur und Politik ihren Höhepunkt. Zweimal, am Anfang und am Ende seiner Dienstjahre, trat Weizsäcker als Laudator auf, 1984 für Octavio Paz und 1993 für den unlängst verstorbenen Friedrich Schorlemmer. Auch als Altbundespräsident kehrte Weizsäcker regelmäßig in die Paulskirche zurück. Dadurch mag er allerdings nachträglich den Eindruck erweckt haben, seine Dauerpräsenz in den Amtsjahren sei eher Ausdruck eines privaten Interesses als Wahrnehmung einer öffentlichen Verpflichtung gewesen.
Gleichwohl blieb die Verbindung zwischen dem Friedenspreis und dem Bundespräsidenten unter seinen Nachfolgern zunächst erhalten. Roman Herzog gab sich in den fünf Jahren 1994 bis 1998 viermal die Ehre, für die Orientalistin Annemarie Schimmel 1995 als Laudator, Johannes Rau nahm an den ersten drei Verleihungen seiner Amtszeit teil und ließ sich 2002 und 2003 jeweils öffentlich entschuldigen.
Jürgen Habermas als Verfassungsorgan ehrenhalber
Als Jürgen Habermas im Herbst nach den Anschlägen vom 11. September den Preis entgegennahm, waren vier Verfassungsorgane durch ihre höchsten Repräsentanten vertreten: Bundespräsident Rau, Bundeskanzler Gerhard Schröder, Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und Jutta Limbach, die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. Aus der Bundesregierung waren außerdem vier Bundesminister und Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin zugegen. Der Staatsphilosoph der Bundesrepublik wurde durch diesen würdigen Auftrieb der Mächtigen sozusagen in den Rang eines Verfassungsorgans ehrenhalber erhoben.
Aber auch 2006, als mit Wolf Lepenies ein Gelehrter mit irenischem Temperament und kosmopolitischem Horizont geehrt wurde, dessen Wirkung aber im Unterschied zu der von Habermas im Wesentlichen auf die wissenschaftliche Öffentlichkeit beschränkt geblieben ist, waren Bundespolitiker der ersten Reihe in aus heutiger Sicht erstaunlicher Zahl präsent: Bundespräsident Horst Köhler, Bundestagspräsident Norbert Lammert (ein sehr treuer Teilnehmer), zwei Bundesminister, Kulturstaatsminister Bernd Neumann sowie der Dauerehrengast Richard von Weizsäcker. In den zwei Jahrzehnten seitdem ist die Dichte der Besuche von ganz oben deutlich zurückgegangen, sodass die Anwesenheit von Joachim Gauck zu Ehren des chinesischen Dissidenten Liao Yiwu 2012 und der Publizistin Carolin Emcke 2016 schon wieder als politisches Signal wahrgenommen werden konnte.
Bei der weltberühmten Schriftstellerin Margaret Atwood 2017 repräsentierte Claudia Roths Vorgängerin Monika Grütters die Bundesregierung allein, das Staatspersonalaufkommen jetzt bei Anne Applebaum entsprach dem für den Fotografen Sebastião Salgado 2019 (eine Bundesministerin plus die Kulturstaatsministerin). Salman Rushdie, dem knapp und unter Verlust des halben Augenlichts der Mörderhand entronnenen Helden des freien Wortes, erwiesen vor einem Jahr drei Bundesminister (Robert Habeck, Cem Özdemir, Bettina Stark-Watzinger) und Claudia Roth den Respekt durch Anwesenheit: Das sieht nach viel aus im Vergleich mit den Jahren unmittelbar davor und danach, ist aber wenig am Maßstab der gesamten Geschichte des Preises. Schon länger kommt auch kaum noch ein Ministerpräsident zu den Verleihungen, noch nicht einmal der hessische.
Kein Bundesminister hörte Zhadan
2022, im ersten Jahr des voll ausgebrochenen Ukrainekriegs, rief die Ehrung des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan ein ähnlich gespaltenes Echo hervor wie jetzt die Entscheidung für Anne Applebaum, die Vertreterin der klassischen Lehre einer Friedenssicherung durch Kriegsvorbereitung. Kein Bundesminister hörte Zhadan, immerhin war die kriegsskeptische SPD, wie in diesem Jahr der Bündnisanbahnung mit der Gruppe Wagenknecht wieder, durch die Parteivorsitzende Saskia Esken vertreten.
Aus dem Glückwunschschreiben des Bundespräsidenten an Anne Applebaum spricht in der Tat eine lebhafte, sowohl persönliche wie intellektuelle Teilnahme an Applebaums literarischer und politischer Arbeit. Steinmeiers Glückwünsche „gelten einer glänzenden Publizistin und Analytikerin, deren Essays, Reportagen und Bücher sich durch profunde Sachkenntnis und ein reiches Wissen aus eigener Anschauung auszeichnen“.
Der Bundespräsident resümiert Applebaums Wirken und bringt es auf die Quintessenz der Aufklärung über „die globale Bedrohung für die liberale Demokratie“, die von autoritären Kräften linker wie rechter Provenienz ausgehe. Applebaum ist für ihren Leser im Schloss Bellevue nicht bloß eine Ideenhistorikerin, sondern vor allem eine Kennerin der „Mechanismen des autoritären Machterhalts“. Ohne ausdrücklich frühere Einschätzungsunterschiede zu erwähnen, bringt Steinmeier vor dem Hintergrund der Weltlage Gemeinsames auf den Punkt: „Die Verteidigung der Freiheit, die unsere Ordnung im Kern ausmacht, ist die Aufgabe unserer Zeit. Dieses Ziel verbindet uns.“ Von der Weltbühne wendet der Absender des Schreibens vor der abschließenden Bekräftigung der Glückwünsche seine Aufmerksamkeit auf das eigene Land, indem er Applebaums Werk „die Aufforderung zur Selbstbehauptung der Demokratie“ entnimmt. „Wie notwendig sie ist, sehen wir auch in Deutschland.“
Im Unterschied zu früheren Telegrammen und Briefen verhinderter Bundespräsidenten wurde dieses Schreiben am Sonntag in der Paulskirche weder verlesen noch auch nur erwähnt. Der Entformalisierung der Kommunikation können sich auch Staatsoberhäupter nicht entziehen. Man muss das nicht unbedingt kulturkritisch deuten, als Beleg eines Verlusts an politischer Öffentlichkeit. Trotzdem ist die Veränderung der Form der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gegenüber der Ära von Theodor Heuss und Richard von Weizsäcker unübersehbar.
Frank-Walter Steinmeier wirkte einmal als Laudator mit, 2020 bei Amartya Sen, dem Weltökonomen aus Indien. Schon in der damaligen Rede, zwei Jahre vor seiner Wiederwahl, war die Bekämpfung der „Pandemie des Autoritarismus“ das Anliegen des zwölften Bundespräsidenten. Wird er noch einmal in der Paulskirche erscheinen, deren historischem Aussagegehalt doch sein besonderes Interesse gilt? Der stumme Akt der Gegenwart gehört offenbar nicht zu Steinmeiers politischer Zeichensprache.
Source: faz.net