Abwanderung dieser Industrie: Die Stimmung unter deutschen Unternehmern könnte kaum unterlegen sein
Zwischen die Regierungserklärung im Bundestag in Berlin und das Treffen des Europäischen Rats in Brüssel passt noch ein Grußwort. So ist Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Mittwochabend zur Zeche Zollverein nach Essen gekommen, um dem Chemikalienhändler Brenntag zu seinem 150. Geburtstag zu gratulieren.
Ursprünglich als ein Eiergroßhandel vom jüdischen Unternehmer Philipp Mühsam in Berlin gegründet, hat das Unternehmen eine wechselhafte Geschichte hinter sich – heute ist Brenntag, obwohl inzwischen im Dax gelistet, einer dieser eher unbekannten Weltmarktführer, der aber fast 18.000 Menschen beschäftigt und mehr als 600 Standorte in 72 Ländern hat. Der Heimatmarkt ist für Brenntag nur einer von vielen.
Deutschland soll Industrieland bleiben
Gerade die Chemiebranche in Deutschland ist angesichts gestiegener Energiepreise unter Druck, was Scholz auch anspricht, als er die Bühne betritt: Es gebe „viel Unsicherheit, wie sich die Preise entwickeln und was das für die Produktion in Deutschland bedeutet“, sagt Scholz und betont, dass die wenige Stunden zuvor im Bundestag vorgestellte industriepolitische Agenda die Schwierigkeiten der Industrie in Deutschland angehen solle. Noch in diesem Monat soll es einen Gipfel im Kanzleramt geben. „Ich will, dass Deutschland erfolgreiches Industrieland bleibt – mit seinen Weltmarktführern und guten Industriearbeitsplätzen“, sagt Scholz. So sollten Unternehmen steuerlich entlastet und „unnötige Bürokratie“ abgebaut werden.
Gerade die Bürokratie wird von Unternehmern als eines der größten Hindernisse für Wirtschaftswachstum angesehen. Das geht auch aus einer Umfrage der Beratungsgesellschaft EY hervor unter mehr als 110 Managern und Inhabern großer Mittelständler und börsennotierter Konzerne. Die noch unveröffentlichte Studie „Die Zukunft der deutschen Wirtschaft 2024“ liegt der F.A.Z. vorab vor. Bürokratische Vorgaben werden darin noch problematischer als der Fachkräftemangel bewertet. So kritisieren fast zwei Drittel der befragten Unternehmer die Geschwindigkeit, mit der politische Entscheidungen gefunden und umgesetzt werden.
Wer investieren will, schaut ins Ausland
Vier von fünf Unternehmenslenkern glauben nicht daran, dass sich in der aktuellen Bundesregierung noch etwas daran ändert und es einen Sprung für die Volkswirtschaft nach vorne geben könne. „Die Studie bestätigt den Eindruck aus den persönlichen Gesprächen, die wir als Prüfer und Berater mit unseren Mandanten führen“, sagt Jan Brorhilker, der als Partner bei EY seit Anfang 2023 den Bereich Assurance leitet, worunter unter anderem die Wirtschaftsprüfung fällt. „Deutschland befindet sich am Scheideweg. Unser Land muss auf nahezu allen Gebieten besser werden“, sagt Brorhilker. Das zeigt sich jetzt schon an unternehmerischen Entscheidungen: Fast drei Viertel der Befragten haben derzeit nicht vor, weitere Standorte in Deutschland zu eröffnen. Wer investiert, schaut eher ins Ausland.
Neben dem Vertrauensverlust in die politische Handlungsfähigkeit sorgen sich Unternehmen mit Blick auf die Entwicklung vor allem um das deutsche Bildungssystem. So entsprächen die Qualifikationen von Schul- und Hochschulabsolventen immer weniger den Erwartungen. Gleichzeitig sieht die Mehrheit der befragten Unternehmen Bildung als bevorzugtes Mittel gegen den Fachkräftemangel.