Israelische Angriffe im Libanon: Flüchtlinge ständig in Gefahr

Hassan hat bis zur letzten Minute mit seiner Flucht gewartet. Als dann am Morgen des 24. September israelische Kampfjets über ihn hinweg donnern und Bomben auf die Wälder rund um seinen Heimatort Deir al-Zahrani fallen, wird ihm klar, nur noch sehr wenig oder gar keine Zeit mehr zu haben. Fast ein Jahr lang war die Kleinstadt – sie liegt etwa zwanzig Kilometer von der israelisch-libanesischen Grenze entfernt – von den Gefechten zwischen Israel und der Hisbollah größtenteils verschont geblieben.

Aber nun erhielten Hassans Nachbarn Anrufe von unbekannten Nummern mit einer aufgezeichneten Nachricht. Die Stimme klang nach klassischem Arabisch mit einem seltsamen Akzent: „Wenn Sie sich in einem Gebäude befinden, in dem sich Hisbollah-Waffen befinden, dann entfernen Sie sich“, war zu hören. Hassan hatte keine Ahnung, ob in den Häusern um ihn herum Waffen deponiert sein könnten. Dann fielen die ersten Bomben.

„Nachbarn, Häuser, Fahrzeuge – sie haben alles getroffen. Als wir begriffen, dass sie auf Zivilisten keine Rücksicht nehmen, mussten wir schleunigst weg. Einige meiner Verwandten haben das nicht überlebt“, erzählt Hassan, während er in Dekwaneh, einem Vorort im Norden von Beirut, in einer Schule sitzt. 24 Stunden zuvor ist sie in eine Unterkunft für Vertriebene verwandelt worden.

Der tödlichste Tag seit 50 Jahren

Orte wie Dier al-Zahrani wurden zu Todesfallen, als die israelische Luftwaffe verheerende Angriffe auf weite Teile des Südlibanon, des Bekaa-Tals und Beiruts flog, bei denen Anfang vergangener Woche fast 600 Menschen an einem Tag getötet und über zweitausend verletzt wurden. Der 23. September war der tödlichste Tage für den Libanon seit fast 50 Jahren. Die Zahl der Todesopfer bei den Kämpfen zwischen der Hisbollah und Israel stieg im gesamten September auf über 1.200 und übertraf damit die Zahlen des Krieges zwischen beiden Konfliktparteien im Sommer 2006.

In Dier al-Zahrani verstauten Hassan und sechs seiner Angehörigen so viel Gepäck in einer BMW-Limousine, wie sich unterbringen ließ, und machten sich auf den Weg nach Beirut. „Als wir unsere Taschen eingeladen hatten, fragten wir uns kurz, ob der Beschuss vielleicht aufhören würde und wir doch besser bleiben sollten. Aber dann fanden wir keinen überzeugenden Grund, der uns davon abhalten konnte, unwiderruflich zu gehen“, erinnert sich Hassan.

Auf der Flucht nach Norden schwebten sie ständig in Gefahr. Tausende drängten sich auf engen, überlasteten, mit Schlaglöchern übersäten Straßen, während israelische Kampfjets über ihnen kreisten und gelegentlich eine Rakete abfeuerten. „Es war schrecklich“, erzählt Hassan. „Hier und da gab es vor uns einen Einschlag. Wir konnten den Rauch sehen und die Geräusche der Raketen hören. Alle gerieten in eine panische Hektik und versuchten, sich in Sicherheit zu bringen, sodass unser Auto zweimal von anderen Fahrzeugen gerammt wurde.“ Ein Video zeigt Autofahrer, die hastig zur Seite ausweichen, während direkt vor ihnen auf der Straße nach Zahrani-Mslihiyeh eine israelische Bombe einschlägt.

Hassan brauchte mit seinen Leuten sieben Stunden, um Beirut zu erreichen – eine Tour, für die man normalerweise weniger als die Hälfte dieser Zeit benötigt. Andere aus seiner Familie waren ganze 24 Stunden bis in die Hauptstadt unterwegs. In WhatsApp-Gruppen kursieren Nachrichten, die jeden, der mit einem Motorrad auf der Flucht ist, dazu auffordern, auf der Fernstraße festsitzenden Autos zu helfen, Verletzte abzuholen und sie in Krankenhäuser zu bringen. Das Land drohe unterzugehen.

Wenn Vertriebene in Beirut eintreffen, treten Monate zuvor eingerichtete Krisenzellen in Aktion. Schulen wurden in Ad-hoc-Unterkünfte umgewandelt und mit Wasser, Nahrungsmitteln und Matratzen ausgestattet. „Wir haben zwölf Schulgebäude, die Menschen aufnehmen können – die bereitstehen für mindestens 2.500 Personen. Neun sind bereits voll, wenn nicht überfüllt, aber wir werden weitere öffnen“, sagte Fadi Baghdadi, ein Sprecher der Beiruter Katastrophenrisikogruppe. Es sind Listen mit Dutzenden von Gebäuden in Beirut und umliegenden Orten im Libanon-Gebirge veröffentlicht worden, die als Notunterkünfte zur Verfügung stehen. Was damit an Beistand möglich ist, wird durch eine Welle von Spenden und durch private Initiativen unterstützt. Einzelpersonen bieten ihre Häuser an, Hotels in Beirut ihre Zimmer zu stark ermäßigten Preisen. Kirchen öffnen ihre Pforten, um Geflüchteten ein Refugium zu geben, dennoch sind Zehntausende obdach- und schutzlos,

Ganze Familien ausgelöscht

Die Nachricht eines Syrers ging viral, nachdem er Libanesen eingeladen hatte, bei ihm in der Stadt Homs in Zentralsyrien diese furchtbare Zeit zu überstehen. „Wir tun unser Bestes, um den Menschen auch Hygieneartikel, Medikamente, Trinkwasser und Lebensmittel zukommen zu lassen“, versichert Rafka Rayees, Notfallhelferin der Caritas Libanon in der Flüchtlingsunterkunft in Dekwaneh. Sie hat am Nachmittag zuvor an diesem Ort ihren Dienst angetreten und die ganze Nacht Vorbereitungen getroffen, damit dieses Asyl Menschen aufnehmen kann. Mittlerweile beherbergt das Quartier etwa eintausend Hilfsbedürftige, hauptsächlich ältere Menschen und Familien. Kinder laufen über das Gelände der umgewidmeten Schule. Sie sind vorsichtig und wirken eingeschüchtert, als bräuchten sie Zeit, um sich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Immer wieder treffen Autos ein, vollgepackt mit Habseligkeiten und Menschen, denen anzusehen ist, wie niedergeschlagen, entnervt und müde sie sind – nach Fahrten am Tag, durch die Nacht und unter Beschuss.

Auch Hassan ist mit einem Teil seiner Familie im Camp von Dekwaneh gelandet. „Alles ist in Ordnung, bis auf die Tatsache, dass wir noch nicht wissen, wo wir schlafen werden.“ Eine Frau kommt aus dem Inneren des Gebäudes und droht den zahlreichen Nothelfern mit dem Finger. Sie macht keinen Hehl aus ihrer Wut. „So sollten wir nicht behandelt werden! In unserem Stockwerk gibt es keinen Strom, wir sollten nicht gedemütigt werden“, schreit sie und kann sich nicht beruhigen.

„Die Schicksale, mit denen wir es seit Tagen zu tun haben, sind so schwer“, sagte Rafka Rayees, „weil es so viele Kinder und so viele ältere Menschen sind, die hier eintreffen. Sie können sich kaum selbst helfen, sie empfinden die Situation als ein einziges Trauma und wollen einfach nur schnell zurück nach Hause.“ Rayees eilt davon, um mit einem Team von Freiwilligen im Schlepptau einen Rundgang durch die Anlage zu machen.

Die Brutalität der Bombardements in den zurückliegenden Tagen übertraf, was aus vorherigen Luftangriffen in Erinnerung ist. Ganze Familien sind ausgelöscht. Jeder in der Unterkunft von Dekwaneh kennt jemanden, der getötet oder verletzt worden ist. Für einige ist es das zweite Mal innerhalb eines Jahres, sich durch Flucht retten zu müssen. „Wir verließen Majdal Zoun im Februar und kamen nach Dahieh [in den südlichen Vororten von Beirut]. Es schien hier sicherer zu sein als im Süden“, sagt die 20-jährige Fatima. Sie verließ Majdal Zoun, nachdem ihre Cousine – ein sechsjähriges Mädchen – im Februar bei einem israelischen Luftangriff ums Leben gekommen war. „Zuletzt konnten wir hören, dass die Flugzeuge nun auch Dahieh überflogen haben. Meine Tochter hatte fürchterliche Angst, besonders vor dem Überschallknallen, das sich wie ein Donnerschlag anhört. Als dann in der letzten Nacht auch Dahieh getroffen wurde, kamen wir hierher.“ Nur zwei Stunden später sollte ein weiterer Luftangriff Dahieh treffen – das zweite Mal an einem Tag. Als die Bomben detonieren, sterben sechs Menschen, 15 werden verletzt. Israel rechtfertigte dieses Ziel mit dem Hinweis darauf, dass man den Oberbefehlshaber des Raketenkorps der Hisbollah habe treffen wollen.

Wie oft wird sich das noch wiederholen? Laut dem Alma Centre, einer israelischen Denkfabrik, geht die eigene Armee davon aus, dass es in Beirut 28 in zivilen Gebieten liegende militärische Ziele gibt. Dies bedeutet, dass eine Bombardierung von Teilen der Stadt, auch des Zentrums, eher zu- als abnehmen wird, was mit Eskalation statt Entspannung rechnen lässt. „Es gibt so viel Zerstörung, und wir haben noch nicht einmal damit begonnen, dies zu begreifen. Es fängt gerade erst an. Vielleicht gibt es bald keinen sicheren Ort mehr, an den wir gehen können“, fürchtet Hassan aus Deir al-Zahrani.

William Christou ist Korrespondent des Guardian in Beirut