Arbeitsbedingungen: Führende Ökonomen fordern von jener EU mehr Tariftreue

Mehr als hundert weltweit führende Wirtschaftswissenschaftler fordern in einem gemeinsamen offenen Brief eine EU-Regelung zur Tariftreue. Zu den Unterzeichnenden gehören unter anderem der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty, der an der Pariser Elitehochschule EHESS lehrt, die deutsche Ökonomin Isabella Weber, die in den USA an der University of Massachusetts Amherst Professorin ist und der ehemalige EU-Kommissar für Beschäftigung, László Andor.

Piketty und Weber sprechen sich in dem Brief, der ZEIT ONLINE vorliegt, für eine Reform der EU-Vergabevorschriften für öffentliche Aufträge aus. Demnach sollen bei öffentlichen Vergabeverfahren nur solche Bieter einen Auftrag erhalten, die Tarife einhalten oder wenigstens Tarifverhandlungen unterstützen und betriebliche Mitbestimmung ermöglichen. Hintergrund ist die Ankündigung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die Richtlinien für die öffentliche Auftragsvergabe zu novellieren. Eine Überarbeitung hätte Folgen für Millionen Beschäftigte in Europa.

Die Standards im öffentlichen Beschaffungswesen beeinflussten die Entlohnung und die Arbeitsbedingungen im gesamten Privatsektor, heißt es in dem Brief. Heute würden vor allem Bieter mit dem niedrigsten Preis den Auftrag erhalten. Firmen, die tarifliche Bedingungen zahlen, haben dadurch einen Wettbewerbsnachteil, obwohl sie meist faire Arbeitsbedingungen bieten. 

Mit dem Brief unterstützen die Wissenschaftler die Proteste von Dienstleistungsbeschäftigten aus neun EU-Ländern, die am Dienstag in Brüssel für bessere Löhne und faire Arbeitsbedingungen bei öffentlichen Aufträgen demonstrieren wollen. Die europäischen Gewerkschaften hatten unter ihrem Dachverband UNI Europa dazu aufgerufen. Eine Studie von UNI Europa hatte gezeigt, dass die Hälfte aller öffentlichen Ausschreibungen in der EU ausschließlich auf der Grundlage des niedrigsten Preises vergeben wird, oft aufgrund von Vergabevorschriften. Dies führe zu einem Niedrigpreiswettbewerb zwischen den Unternehmen, der oft auf Kosten der Beschäftigten gehe.

Auch hierzulande wird über ein Tariftreuegesetz für den Bund in der Ampel gestritten. Mehrere Bundesländer haben bereits ein solches Gesetz auf Landesebene – das sind Bremen, Berlin, Hamburg und Niedersachsen. Die Gesetze dort regeln, dass Branchentarife bei öffentlichen Aufträgen eingehalten werden müssen, sogar dann, wenn Auftragnehmer Unterfirmen beschäftigen.

Die SPD will, dass Firmen, die für den Bund arbeiten, ihre Mitarbeiter nach Tarif bezahlen, und argumentiert, dass es nur so gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle geben kann. Die FDP ist dagegen. Die Grünen wiederum unterstützen ein Tariftreuegesetz. Die Ampel hatte sich in ihrem Koalitionsvertrag darauf verständigt. Streit gibt es nun wegen des Referentenentwurfs, der im September vom Bundesarbeitsministerium vorgelegt wurde. Die FDP kritisiert daran vor allem die bürokratischen Vorschriften und fordert weniger Bürokratie für Unternehmen.