Atomkraft: Folgt dies globale Comeback jener Nukleartechnik?
Die Kleinstadt Harrisburg an der Ostküste der Vereinigten Staaten ist einer der symbolisch aufgeladenen Orte der Anti-Atomkraftbewegung. Eine Chiffre für die Gefahren des Nuklearzeitalters. Im benachbarten Atomkraftwerk Three Mile Island hat sich im März 1979 der bis heute folgenschwerste Atomunfall der US-Geschichte abgespielt. In einem der beiden Reaktorblöcke kam es zu einer teilweisen Kernschmelze, die Angst und Schrecken verbreitete.
Doch jetzt bekommen Harrisburg und sein Kraftwerk plötzlich eine ganz neue Bedeutung: Three Mile Island wird zum Symbol einer globalen Renaissance der Atomkraft. Von manchen wird sie ersehnt, von anderen gefürchtet. Ende vergangener Woche ging die Nachricht um die Welt, dass der zweite damals unversehrt gebliebene Reaktorblock auf dem Kraftwerksgelände wieder in Betrieb genommen wird. Ausgerechnet das berüchtigtste Atomkraftwerk der USA soll wieder Strom liefern.
Der Software-Konzern Microsoft hat mit dem Betreiber der Anlage einen Stromabnahmevertrag über 20 Jahre geschlossen. Wenn die Behörden zustimmen, soll der heute bereits ein halbes Jahrhundert alte Reaktor sogar bis 2054 weiterlaufen. Noch vor fünf Jahren dagegen war der Atomreaktor wirtschaftlich so unrentabel, dass er stillgelegt wurde.
Großbanken wollen Atomkraft voranbringen
Nur wenige Tage nach der Nachricht von der Reaktivierung des Störfall-Kraftwerks gaben 300 Kilometer östlich von Harrisburg einige der weltgrößten Banken der Atomkraft weiteren Schub. In New York veröffentlichten sie diese Woche eine gemeinsame Erklärung, in der sie ihre Unterstützung für die Finanzierung der geplanten nuklearen Investitionsoffensive zusagten. Zu den 14 Unterzeichnern zählen führende US-Institute wie Goldman Sachs und Morgan Stanley sowie europäische Großbanken wie Barclays und BNP Paribas.
Die Finanzkonzerne wollen mit dem Schritt die Initiative „Triple Nuclear Energy“ voranbringen: Eine Allianz von 22 Staaten hat vergangenen Dezember auf der Weltklimakonferenz in Dubai angekündigt, gemeinsam bis zum Jahr 2050 die globale Kernkraftkapazität zu verdreifachen. Der Gruppe gehören unter anderem die Vereinigten Staaten, Kanada, Frankreich, Großbritannien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Japan an.
Der politische Wille ist da, am Geld soll es nicht scheitern – steht also die Atomkraft vor einer neuen Blütezeit? Ja, glaubt Fatih Birol. Der Ökonom ist Generaldirektor der Internationalen Energieagentur (IEA) in Paris und einer der einflussreichsten energiepolitischen Ratgeber für Regierungen rund um den Globus. „Die Atomenergie ist bereit für ein Comeback“, sagt Birol. Zwar bildeten Windkraft, Photovoltaik und andere Formen der erneuerbaren Energie die wichtigste Säule eines klimaschonenden neuen Weltenergiesystems. „Aber die Atomkraft spielt auch eine Rolle“, erwartet Birol.
Ein tolles Signal seien der Plan zur Verdreifachung der Atomkraft und die Unterstützung der Großbanken dafür, sagt auch Sama Bilbao y León, Generaldirektorin der World Nuclear Association, dem Weltverband der Atomindustrie. „Aber diesem Signal müssen jetzt auch konkrete industriepolitische Schritte folgen.“ Der Weg dahin ist weit. In Europa und Nordamerika wurden viele Jahre lang kaum neue Kernkraftwerke gebaut. Für die versprochene und technisch anspruchsvolle Atom-Offensive müsse erst einmal die notwendige Zulieferindustrie neu aufgebaut werden, sagt die Spanierin.
Eine der größten Herausforderungen beim Atom-Comeback bleibt die Finanzierung, daran ändern auch Absichtserklärungen großer Banken erst einmal wenig. „Die Vorabinvestitionen für den Bau von Kernkraftwerken sind extrem hoch, während die anschließenden Betriebskosten sehr niedrig sind“, sagt der IEA-Chef Birol. Investoren brauchten deshalb verlässliche Zusicherungen der Regierungen, dass diese langfristig auf Atomkraft setzten.
Anteil der Atomkraft weltweit fast halbiert
Ohne massive Investitionen wird es nicht gehen. Denn die erste Blütezeit der Atomkraft in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als weltweit hunderte Atommeiler gebaut wurden, ist lange her. Unter dem Eindruck des ersten Ölversorgungskriese suchten die Regierungen damals nach neuen Energiequellen. Aber seit Mitte der neunziger Jahre hat sich der Anteil der Kernkraft an der globalen Stromerzeugung fast halbiert.
Vergangenes Jahr wurden global 480 Milliarden Dollar in neue Solarkraftwerke und weitere 200 Milliarden Dollar in Windparks investiert, aber nur gut 80 Milliarden Dollar in Kernkraftwerke. Dieses Jahr wurden bislang auf der ganzen Welt nur vier neue Atomanlagen in Betrieb genommen. Zusammen kommen sie auf eine Leistung von rund 4 Gigawatt. Zum Vergleich: Allein in Deutschland wurden im ersten Halbjahr erneuerbare Energien mit einer Leistung von 9 Gigawatt installiert. Wenn es in diesem Tempo weitergeht, fällt die globale Atom-Renaissance aus.
Andererseits haben Atomkraftwerke einen wichtigen Vorteil: Sie erzeugen kontinuierlich klimaschonende Elektrizität. Windräder und Solaranlagen liefern dagegen nur dann Strom, wenn die Sonne scheint und der Wind weht. Diese Volatilität wird mit einem wachsenden Anteil der Erneuerbaren in den Stromnetzen zunehmend zum Problem.
Sollte auch Deutschland seinen Ausstieg aus der Atomkraft noch mal überdenken? Hierzulande gingen im Frühjahr 2023 die letzten drei Kernkraftwerke vom Netz. „Ich hätte diese Entscheidung so nicht getroffen“, sagt der IEA-Chef Birol. „Aber ein Wiedereinstieg ist möglich, wenn die Regierung und die Bürger das wollen.“ Deutschland müsse dann viel weniger neue Gaskraftwerke zur Absicherung von Erzeugungsschwankungen der Erneuerbaren bauen.
Neuartige Kleinkraftwerke, sogenannte Small Modular Reactors (SMR), wären auch für Deutschland eine Option, sagt Birol. Eine Wiederinbetriebnahme alter Kernkraftwerke, so wie jetzt Three Mile Island in den USA, könne ebenfalls geprüft werden.
Stahlkonzern investiert in Kernkraftwerke
In Amerika zählen die Unternehmer-Rockstars der Technologiebranche zu den größten Tempomachern für die Atomkraft. Denn der Hype um die Künstliche Intelligenz hat zu einem Bauboom bei Rechenzentren geführt und treibt den Energieverbrauch der Datenverarbeitung massiv nach oben. Eine Anfrage an den KI-Chatbot ChatGPT braucht im Schnitt zehnmal so viel Strom wie eine Google-Suche.
Amazon-Chef Jeff Bezos hat im Frühjahr für seinen Konzern ein mit Atomstrom betriebenes Rechenzentrum in Pennsylvania gekauft. Oracle-Chef Larry Ellison will drei SMR-Kleinkraftwerke bauen. Sam Altman, der Chef des ChatGPT-Entwicklers Open AI, investiert in das Start-up Oklo, das ebenfalls SMR-Kraftwerke entwickelt. Er ist neben PayPal-Gründer Peter Thiel auch Geldgeber eines anderen Nuklear-Start-ups: Das Unternehmen Helion verspricht schon 2028 ein funktionsfähiges Fusions-Kraftwerk zu liefern – ein extrem kühnes Versprechen, versuchen genau das doch andere Atomwissenschaftler seit Jahrzehnten erfolglos. Microsoft hat dennoch bereits einen Vertrag mit Helion zur Lieferung von Strom aus dem angekündigten neuen Wunderkraftwerk abgeschlossen.
Aber in den USA setzt nicht nur das Silicon Valley auf ein Comeback der Atomkraft: Auch der größte amerikanische Stahlhersteller Nucor investiert in nukleare Kleinkraftwerke und in Altmans Fusions-Start-up Helion. Der Stahlkonzern will ähnlich wie in Deutschland ThyssenKrupp und Salzgitter auf klimaschonende Produktion umstellen und braucht dafür viel CO2-neutralen Strom. „Wind und Sonne werden dafür nicht ausreichen“, sagt Nucor-Chef Leon Topalian. Er will mitmischen bei der Atomkraft-Offensive: „Wir werden nicht nur an der Seitenlinie sitzen und darauf hoffen, dass jemand diese Technologien entwickelt“, kündigt der Stahlmanager an.
Der Chemiegigant und BASF-Konkurrent Dow experimentiert ebenfalls mit der Nukleartechnik, um seine Produktion auf Klimaschutz zu trimmen. Dow will eine Fabrik in Texas mit einem Klein-Atomkraftwerk des Herstellers X-Energy ausrüsten, das Ende des Jahrzehnts den ersten Strom liefern soll.
In China werden sogar Wohnungen mit Atomkraft beheizt
Auch außerhalb Nordamerikas gibt es große Pläne. Länder wie Schweden und Japan, die der Atomkraft den Rücken gekehrt haben, setzen nun wieder auf sie. In Europa gibt es unter anderem in Bulgarien, den Niederlanden, in Polen und in Rumänien Pläne für neue Kernkraftwerke. Selbst das Entwicklungsland Bangladesch will nächstes Jahr sein erstes Atomkraftwerk in Betrieb nehmen. Und die Chinesen sind ohnehin die größten Atominvestoren der Welt.
Von den 62 neuen Atomreaktoren, die derzeit rund um den Globus im Bau sind, entstehen allein 30 in China. Der Energiehunger der aufstrebenden Supermacht in Fernost ist unersättlich. „Binnen fünf Jahren wird China die USA als größten Betreiber von Atomkraftwerken auf der Welt überholt haben“, sagt der IEA-Chef Birol voraus. Sogar Fernwärmenetze zur Beheizung von Wohnungen werden in dem asiatischen Land inzwischen mit Atomkraft betrieben.
Doch anders als in China ist der neue Atomkraft-Boom in vielen Ländern bisher bloß eine große Zukunftshoffnung. An Plänen, Zielen und kühnen Versprechungen fehle es nicht, sagt der Atomexperte Walter Tromm vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT). „Es gibt interessante Konzepte. Aber jetzt muss mal jemand so ein Kraftwerk bauen und zwar im Zeitplan und innerhalb des geplanten Kostenrahmens.“
Genau das ist bisher das große Handicap. Zwei neue Reaktorblöcke für das Kernkraftwerk Vogtle im US-Bundesstaat Georgia, die kürzlich nach 15 Jahren Bauzeit in Betrieb gingen, haben zusammen 30 Milliarden Dollar gekostet – mehr als doppelt so viel wie ursprünglich geplant. Auch der Bau europäischer Druckwasser-Großreaktoren in Frankreich, Großbritannien und Finnland kostet viele Milliarden mehr als vorgesehen. So könne es nicht weitergehen, räumt Sama Bilbao y León, die Chefin des Nuklearindustrie-Weltverbands, ein. „Wir müssen beweisen, dass wir die finanziellen Risiken rausnehmen können.“ Sie verweist darauf, dass in Korea, Indien und China Reaktoren fristgerecht und ohne gigantische Kostenüberschreitungen fertiggestellt würden.
Neue Kleinkraftwerke sind bisher nur Hoffnungsträger
Die neuen kleinen SMR-Atommeiler sollen billiger werden, verspricht die Industrie. Allerdings sind die Kleinkraftwerke schon seit einigen Jahren der große Hoffnungsträger der Branche, aber außer einzelnen Anlagen in China und Russland, gibt es sie bislang noch nirgends. Ob die Pläne dafür technisch und wirtschaftlich aufgehen, muss sich erst noch zeigen. Die SMR sollen standardisiert und quasi in Serienfertigung produziert werden, stellen die Hersteller in Aussicht. „Aber bisher sind die großen Versprechen nicht eingelöst worden“, sagt der KIT-Fachmann Tromm.
Und auch die altbekannten Probleme der Atomkraft sind nicht verschwunden: Da ist das Risiko folgenschwerer Atomunfälle wie in Fukushima und Tschernobyl. Im Ukrainekrieg setzt Wladimir Putin eine mögliche Beschädigung des Großkraftwerks Saporischschja gezielt als Terrordrohung gegen Europa ein.
Außerdem ist die internationale Atomwirtschaft, was den Kernbrennstoff für die Kraftwerke angeht, derzeit hochgradig abhängig von Russland: Das Land kontrolliert die Hälfte der gesamten Uranverarbeitung auf der Welt. Und es gibt auch sieben Jahrzehnte nach dem Beginn des Atomzeitalters in der Stromerzeugung global erst ein einziges Endlager für hochradioaktiven Atommüll: ein unterirdisches Depot auf einer Insel vor Finnland, das nach den Plänen der Betreiberfirma im kommenden Jahr in Betrieb genommen werden soll.
Fatih Birol, der Chef der Internationalen Energieagentur, ist dennoch optimistisch für die Kernkraft. „Wenn wir die Probleme lösen, dann können wir weltweit eine ähnliche Welle an neuen Atomkraftwerken sehen, wie nach der ersten Ölkrise in den siebziger Jahren“, glaubt er.