Ab zu welchem Zeitpunkt ist man spielsüchtig? Diese Faktoren sind entscheidend
Drei Viertel der deutschen Kinder und Jugendlichen zwischen zwölf und 19 Jahren spielen laut der jüngsten JIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest regelmäßig Videospiele. Unlängst forderte der Neurobiologe Martin Korte in einem F.A.Z.-Gastbeitrag, die Geräte und deren Nutzung ähnlich wie Alkohol und Zigaretten strenger zu reglementieren. Doch ab wann wird die Bildschirmzeit eigentlich zum Problem – und ab wann spricht man von einer Sucht?
Seit einigen Jahren besteht dazu mehr Klarheit – zumindest aus definitorischer Sicht: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat in der ICD-11, der elften Version ihres Klassifikationssystems für Krankheiten und verwandte Gesundheitsprobleme, erstmals offizielle Kriterien für eine Computerspielstörung festgelegt. Das Deutsche Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) schätzt, dass mehr als jeder zehnte Jugendliche in Deutschland gefährlich viel digital spielt und jeder vierte Jugendliche riskant viel Zeit in sozialen Medien verbringt.
Die Klassifikation der WHO
Seitdem es Videospiele gibt, besteht eine Debatte darüber, ob damit zusammenhängendes Suchtverhalten als eigenständiges Krankheitsbild betrachtet werden soll. Thesen gegen eine solche Klassifikation sind, dass problematisches Spielverhalten eher auf zugrunde liegende psychische Probleme, Impulskontrollstörungen oder eine generelle Verhaltensabhängigkeit zurückzuführen sei, nicht auf das Spiel selbst. So wendete sich im Vorfeld der ICD-11 eine Gruppe Wissenschaftler in einem öffentlichen Brief an die WHO. Darin behaupteten sie, dass die Entscheidung, Computerspielabhängigkeit als Krankheit aufzufassen, mehr schaden als nutzen würde. Ein von der britischen Spieleherstellerorganisation ELSPA in Auftrag gegebener Bericht befürchtete, dass die WHO-Klassifikation Videospieler stigmatisieren könnte.
Trotz der im Vorfeld aufgebrachten Kritik trat die ICD-11 im Januar 2022 knapp vier Jahre nach ihrer Veröffentlichung in Kraft. Sie unterscheidet bei Videospielabhängigkeit zwischen zwei Ausprägungen: einem pathologischen Nutzungsverhalten beziehungsweise einer Computerspielstörung („Gaming Disorder“) sowie einem riskanten Nutzungsverhalten („Hazardous Gaming“). Diese beiden Formen werden an unterschiedlichen Stellen der ICD-11 aufgeführt.
Für eine Computerspielstörung – also eine pathologische Nutzung – müssen fünf Faktoren vorliegen. Erstens: Betroffene priorisieren das Spiel gegenüber anderen Lebensinhalten. Zweitens: Sie haben die Kontrolle über ihr Spielverhalten verloren. Drittens: Sie setzen es trotz negativer Konsequenzen fort. Viertens: Es müssen signifikante Beeinträchtigungen in persönlichen, sozialen sowie schulischen oder beruflichen Bereichen vorliegen. Und fünftens: Die Symptome müssen mindestens über zwölf Monate lang andauern, um als Computerspielstörung zu gelten.
„Direkte Handysucht gibt es eigentlich nicht“
Eine Vorstufe zum pathologischen Nutzungsverhalten ist das riskante Nutzungsverhalten: Laut ICD-Definition beschreibt es eine exzessive Nutzung, bei der negative Folgen zwar in Kauf genommen werden, jedoch noch nicht eingetreten sind. Die ICD-11 sieht diese Kategorie für Fälle vor, in denen das Spielverhalten Aufmerksamkeit und Rat von Gesundheitsexperten rechtfertigt, aber noch nicht die diagnostischen Anforderungen für eine Spielstörung erfüllt.
Seit 2019 führt das DZSKJ im Auftrag der Krankenkasse DAK-Gesundheit eine Längsschnittstudie zur Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland durch. Die Studie untersucht die problematische Mediennutzung im Kindes- und Jugendalter und befragt dafür Personen im Alter von zehn bis 17 Jahren sowie deren Erziehungsberechtigte.
Zur Datenerhebung verwenden die Forscher Fragebögen – eine Computerspielstörung äußert sich schließlich nicht etwa in besonderen Blutwerten oder einer hohen Virenlast. Deshalb ziehen die Forscher aus den Antworten auf die Fragen Schlüsse auf die Schwere der Abhängigkeit. Die WHO führt in der ICD-11 nur die Sucht nach digitalen Spielen als Krankheit auf. Für die problematische Nutzung von sozialen Medien oder Videostreamingdiensten hat sie bisher keine eigenständige Diagnose. Um auch diese Nutzungsformen zu erfassen, untersuchten die von der DAK beauftragten Forscher nicht nur Videospielverhalten, sondern auch die Nutzung sozialer Medien und von Streamingdiensten.
Online gefährlicher als offline
Der Ergebnisbericht der sechsten Erhebungswelle für das Jahr 2023 identifiziert in Bezug auf Videospiele bei 11,1 Prozent der jungen Leute ein riskantes Verhalten und bei 4,3 Prozent ein pathologisches. Streaming würde von 14,4 Prozent in riskantem und von 1,2 Prozent in pathologischem Ausmaß genutzt. Die Nutzung sozialer Medien sei bei 24,5 Prozent riskant und bei 6,1 Prozent pathologisch.
Es ist schwierig, genau zu bestimmen, wie viele Menschen weltweit an einer Computerspielstörung leiden oder ein riskantes Nutzungsverhalten aufzeigen. Kanadische Wissenschaftler haben die Ergebnisse von 160 Untersuchungen zur Abhängigkeit von Internetspielen verglichen. In diesen Studien variierte die Prävalenz, also die Häufigkeit einer Computerspielestörung, stark – 0,21 Prozent bis zu 57,5 Prozent der Bevölkerung wird in den Erhebungen eine solche Störung zugeschrieben. Nicht alle Studien basieren jedoch auf den Kriterien der ICD-11, was zu unterschiedlichen Vorgehensweisen und folglich sehr unterschiedlichen Ergebnissen führt.
Trotz der Unterschiede weisen die meisten Untersuchungen zu der Thematik einige gemeinsame Erkenntnisse auf: Jungen sind wohl häufiger von einer Computerspielabhängigkeit betroffen, während Mädchen eher übermäßig soziale Medien nutzen. Zudem zeigt sich, dass Videospielstörungen im ostasiatischen Raum wohl häufiger auftreten als in Europa.
„Direkte Handysucht gibt es eigentlich nicht – so wie der Alkoholiker nicht abhängig von der Flasche ist, sondern vom Inhalt“, betont Isabel Brandhorst, die an der Universität Tübingen zu Internetnutzungsstörungen forscht. Es sei das Spiel und nicht das Gerät. Doch auch das Spielegenre sei relevant: Südkoreanische Forscher schlussfolgerten in einer 2017 veröffentlichten Untersuchung, dass Spieler sogenannter Massen-Mehrspieler-Online-Rollenspiele wie „World of Warcraft“ und Egoshooter wie „Call of Duty“ häufiger abhängig seien als die von Echtzeitstrategiespielen wie „Age of Empires“ und Sportspielen wie „FIFA“.
Besonders süchtig mache ein Spiel dann, wenn es Strategien beinhalte, die Spieler möglichst lange ans Spiel binden. Zu diesem Ergebnis kam eine Metastudie der Universität Lübeck aus dem Jahr 2017. Suchtgefahr bestünde zudem dann, wenn ein Spiel Glücksspielcharakter hat und mit sozialem Feedback aus der Spieler-Community arbeitet. Bei vielen Spielen gibt es beispielsweise die Möglichkeit, zu chatten und bestimmte Aktivitäten der Freunde einzusehen. Internetspiele würden deshalb mit einer tendenziell größeren Suchtgefahr einhergehen als Offline-Spiele.
Zweifel an positiven Effekten
„Auf neurowissenschaftlicher Ebene sind bei der Entwicklung einer nicht stoffgebundenen Sucht, also zum Beispiel der Sucht nach Videospielen, die gleichen neuronalen Strukturen beteiligt wie bei den klassischen stoffgebundenen Süchten wie der Alkoholabhängigkeit“, betont der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer. Der ärztliche Direktor des Psychiatrischen Universitätsklinikums Ulm unterstreicht, dass übermäßiges Computerspielen auch in körperlichen Problemen wie Kurzsichtigkeit, Übergewicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Demenz resultieren könne.
Auf der anderen Seite deuten mehrere Forschungsergebnisse darauf hin, dass Videospiele bestimmte Fähigkeiten verbessern könnten und Hirnbereiche für räumliche Orientierung und Gedächtnis stärken würden. Eine 2023 veröffentlichte Untersuchung der American Medical Association fand schnellere Reaktionszeiten und bessere kognitive Leistungen bei Spielern. Und als ein Forscherteam rund um Boris Suchan des Instituts für Kognitive Neurowissenschaft der Ruhr-Universität Bochum Gamer und Nicht-Gamer bei Lernaufgaben gegeneinander antreten ließ, schnitten Erstere deutlich besser ab. Manfred Spitzer hält von diesen Ergebnissen wenig. In einem Beitrag für die Fachzeitschrift „Nervenheilkunde“ wirft er vor, dass die meisten dieser Studien Befunde fehlinterpretieren würden, indem sie Beeinträchtigungen im Hirn als positive Anzeichen werten würden.
Liegt die Sucht einmal vor, gibt es verschiedene Wege, sie zu behandeln. Diese reichen von einer Verhaltenstherapie bis zur Einnahme von Medikamenten. „In der Therapie geht es darum, neue, sinnstiftende Aktivitäten zu finden, die die Zeit und Aufmerksamkeit der Betroffenen beanspruchen“, erklärt Neurowissenschaftler Spitzer. Doch seien Abstinenz und der Wille zur Veränderung grundlegende Voraussetzungen für eine erfolgreiche Behandlung von Verhaltenssüchten.
„Jeder Erwachsene ist für sich selbst verantwortlich. Doch Kinder und Jugendliche sind es nicht. Hier tragen der Staat und die Familie eine Verantwortung, und es ist wichtig, dieser nachzukommen“, so Spitzer. Wer befürchtet, das eigene Kind oder man selbst könne eine Sucht entwickeln, sollte sein eigenes Nutzungsverhalten hinterfragen. Dafür ist es hilfreich, die fünf Voraussetzungen für eine Computerspielstörung nach ICD-Definition heranzuziehen. Sollten diese zumindest teilweise erfüllt sein, ist es ratsam, ein Beratungsgespräch bei einer Präventionsstelle in Anspruch zu nehmen.
Die Tübinger Forschungsgruppe um Isabel Brandhorst sucht bis Ende September Eltern, die das Onlinetraining „ISES!“ (Internetbezogene Störungen: Eltern stärken) testen. Das Programm unterstützt Eltern dabei, eine klarere Haltung in der Medienerziehung zu entwickeln und gemeinsam mit ihren Kindern Lösungen zu finden. Die Teilnahme ist kostenlos und beinhaltet eine kurze, anonyme Befragung.