Lausitz Festival: Es pocht, es stampft
„Nigun – Hebräische Chormusik“, ein Konzert des SWR Vokalensembles unter Leitung Yuval Weinbergs, seines Chefdirigenten seit 2020, war in diesem Sommer an mehreren Orten Westdeutschlands zu hören gewesen, nun kam es im Rahmen des Lausitz Festivals nach Bad Liebenwerda, einer seit 1231 bezeugten brandenburgischen Kurstadt. Hier hatte sich 1519 Martin Luther zu einem Streitgespräch mit dem päpstlichen Nuntius Karl von Miltitz getroffen. Das Konzert fand am 30. August in der evangelischen Stadtpfarrkirche St. Nikolai statt, deren letzte Umgestaltung 2020 dazu gedient hatte, sie noch besser für Konzert- und Kulturveranstaltungen nutzbar zu machen.
Die Akustik war wirklich hervorragend. Man saß in einem, was die Wände angeht, recht nüchternen Langbau, dessen blaue Flachdecke mit seinen Ornamenten aber fast schon interreligiös anmutet. Vorn, wo er sich rundet, schaute man auf vier große Kirchenfenster mit schönen Glasmalereien, die mit dem Einbruch der Dunkelheit in ihren Einfassungen verschwanden. Dass die jüdische Musik der christlichen Harmonie dieses Ortes widersprach, gehörte gleichsam zum Konzertprogramm. Ich berichte spät, weil ich in der vorigen Woche krank war.
Im Programmheft war die Frage aufgeworfen, ob es etwas verbindend Jüdisches in den elf Chorkompositionen gibt, die gesungen wurden, und worin es bestehen mag. Natürlich haben die Komponist:innen an die europäische Tradition angeschlossen, aber gibt es da eine Eigenart? Ich greife zwei Werke heraus, zunächst Shir Haschirim / Hohelied Kapitel 3 von Yehezkel Braun (1922–2014). Im traditionell tonalen Chorsatz (einem westdeutschen Programmheft entnehme ich, dass Braun mit dem Kirchengesang des Mittelalters vertraut war und sich, auf dieser Basis, für die Torahsangweisen der jemenitischen und sephardischen Juden interessierte) fällt eine immer wieder hervortretende pochende Figur auf. Worauf sie hinweist, macht der Text aus dem Hohenlied, dem „Buch der (Liebes-) Lieder“, deutlich genug: aufs körperliche Begehren. Das ist nichts für puritanische Ohren!
Vor ein paar Tagen las ich in der Zeitung, welche Bücher in Florida aus Schulbibliotheken entfernt werden, zum Beispiel Ernest Hemingways Roman Wem die Stunde schlägt, wo im Spanischen Bürgerkrieg einem Kämpfer der Internationalen Brigaden ein Schlafsack zugewiesen wird, den er mit einer jungen Spanierin teilt. Die Bibel, die jenes Kapitel 3 enthält, müssten sie auch entfernen: „Des Nachts auf meinem Lager suchte ich, den meine Seele liebt. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht.“ So beginnt es. Tagsüber sucht sie auf den „Gassen und Straßen.“ Hier ist nicht von einer gesuchten Person die Rede, die die Suchende kennt, gesehen hat, wiederzufinden hofft, sondern das Begehren, eine solche Person allererst kennenzulernen, ist schon die Liebe. Als sie gefunden ist, hält die Suchende sie fest und bringt sie „in meiner Mutter Haus, in die Kammer derer, die mich geboren hat“. Am Ende ist es der König Salomo – das Kapitel ist wohl eine Kompilation: ein ursprüngliches Volkslied, dem ein Salomotextstück angehängt ist, wo aus dem Geliebten der König wird – und es heißt, an Tage der Hochzeit habe ihn „seine Mutter gekrönt“.
Yehezkel Braun schaut nicht aufs Hohelied Salomonis, wie die Christen es tun. Die zitieren gern den Vers „Stark wie der Tod ist die Liebe“ (Hoheslied 8, 6) und sehen darin eine frühe Spur Jesu Christi. Auch die Puhdys, die das Hohelied in ihrem wunderschönen Song Wenn ein Mensch lebt zitieren (im Film Die Legende von Paul und Paula), haben zwar nicht direkt den Tod gemeint, aber doch das schmerzliche Ende einer Liebesbeziehung mit ihm verglichen. Hier indes, in der jüdischen Komposition, ist pure Sinnlichkeit das Thema. Auf einer abstrakteren Ebene heißt das, es wird nicht das Ende thematisiert, in dem alles an seinem Platz ist, wie denn jener Vers zum beliebten christlichen Trauspruch wurde, sondern der Prozess, in dem nicht schon alles vorentschieden ist. Davon zeugt das Pochen in der Musik. Davon zeugt auch, dass die Männer und Frauen des Chors nicht nur zusammen sondern auch gegeneinander singen, einander fordernd im Dialog.
Ohne Heilsordnung
Dieses Gegeneinander ist auch etwa in den Vier jiddischen Liedern nach Abraham Sutzkever zu hören, komponiert von Menachem Wiesenberg (*1950). Hier kommt noch hinzu, dass eine Männergruppe gelegentlich in schreiendes Rufen ausbricht. Der Inhalt der Lieder ist auch danach, es geht um die Judenverfolgung im 20. Jahrhundert. Furchtbar schon das erste Lied, das mit „süßen Schlummerfarben“ eines Sonnenuntergangs, wenn auch „auf eisigblauen Wegen“, beginnt. Das Eis, auf dem „Zauberschlitten kreisen“, ist durchzogen von „blitzenden Kristallen“! Schließlich aber: „Unter Kuppeln“ – des Eises -, „weit gespannt aus Stille, blüht dort eine Welt – ein Kind von sieben Jahren.“ Im zweiten Lied wird „ein Wagen Schuhe“ besungen und der Ablauf ist analog: Die Schuhe „rufen vertraute Gestalten zurück“ – „Menschen, froh beim Tanz“, „Ist wirklich Hochzeit heute?“ -, aber nicht Tanzende haben sie getragen und die Füße zu den Schuhen gibt es nicht mehr: „Ich hör die Absätz klappern, / Wohin, wohin, wohin? / Aus alten Wilner Gassen / Treibt man uns nach Berlin.“
In der Komposition wird nicht geklappert, sondern der Chor stampft immer wieder einen harten Rhythmus auf den Boden, ganz ähnlich dem Klopfen in Messiaens Oper vom heiligen Franziskus, das wohl auch dort den Schmerz der Folter bedeutet, aber es ist wieder der Unterschied wie oben: Im christlichen Kontext gehört der Schmerz zur fertigen Heilsordnung, im jüdischen muss er genommen werden, wie er ist, weil er mitten im historischen Prozess erlitten wird und einfach nur grauenhaft ist – auch wenn schließlich, im vierten Lied, gefragt wird: „Wer wird bleiben? Gott wird bleiben. Ist das nicht genug?“
Wiesenbergs Musik ist letztendlich tonal, doch überaus dissonant. Man kann sich vorstellen, es sei ein sehr spätes Stadium jenes von Hugo Distler, dem evangelischen Kirchenmusiker, begangenen Weges der „engen Lagen“ und „neuartigen Zusammenklänge“, die als funktional im Sinne tonaler Musik nicht mehr deutbar sind. Viel mehr aber sticht der Unterschied ins Ohr, dass Distlers Klänge zwar trauernd sein können, aber stets in allem einheitlich und ausgeglichen sind, während Wiesenbergs Klänge eine Art Ruhe hören lassen, die wirklich der Ruhe des Eises ähnelt, unter dem etwas begraben ist.
Foto: Marcel Schroeder
Im Festivalprogramm war Arnold Schönbergs Psalm 130 als Bestandteil des Konzerts angekündigt, er wurde leider nicht vorgetragen. Hier wäre das „verbindend Jüdische“ der Musik, das ich zu ahnen glaubte, am deutlichen ausgeprägt gewesen. „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“, beginnt dieser Psalm: „Herr, höre meine Stimme!“ Ebenso beginnt auch ein Luther-Choral: „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“, aber wir haben wieder den Unterschied: Der Luther-Choral in sich gefestigt wie „Ein feste Burg ist unser Gott“ (wo es an einer Stelle heißt: „Nehmen sie uns den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: Lass fahren dahin, sie haben’s kein Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben“), dagegen der Schönberg-Chor in großer Erregung.
Schönbergs Psalm 130 ist auf Ähnlichkeit mit dem Sprechen Gottes am Beginn der Schönberg-Oper Moses und Aron angelegt: Gott ist dort ein Chor aus zwei oder mehr Gruppen, die teils singen teils sprechen, mal ruhig mal erregt, und die Menschen, die im Psalm zu ihm schreien, sind davon das „Ebenbild“, wie es in der Genesis heißt. Sie sind freilich nicht „das A und O“, kennen das Ende nicht. Aber umgekehrt ist auch Gott keine erstarrte Ruhe, vielmehr ein heftiges wenn auch mit sich einverstandenes Bewegtsein. Ein Modell vielleicht, wie man sich, im Fallen begriffen, bewegen sollte? Man vergleiche damit den Gott, wie er sich in Messiaens Oper äußert: Ebenfalls ein Chor, tauscht er sich nicht mit Moses am brennenden Dornbusch sondern mit dem heiligen Franziskus aus und seine Musik gibt zu verstehen, dass er über Konflikte jeder Art immer schon hinaus ist. Franziskus erbittet von Gott den Folterschmerz Christi, bekommt ihn auch, ist dankbar …
Der Besuch in Bad Liebenwerda hat sich in mehr als einer Hinsicht gelohnt.