Brian Niccol: Ein Star zu Gunsten von Starbucks

Seinen typischen Morgen beschrieb Brian Niccol einmal so: Er steht gegen sechs Uhr auf, trinkt einen Kaffee – genauer gesagt einen Americano –, danach macht er Sport, frühstückt anschließend einen Proteinshake mit Früchten und Erdnussbutter, fährt seine jüngste Tochter zur Schule und kommt dann gegen neun Uhr ins Büro, wo seine Assistentin ihn auf den Tag vorbereitet.

Ein Stopp bei Starbucks für einen Kaffee zum Mitnehmen, wie ihn so viele Amerikaner jeden Morgen einlegen, gehört nicht dazu, bislang jedenfalls nicht. Vielleicht reiht er sich in diesen Tagen doch einmal in die Schlange im „Drive Thru“ ein, als Vorbereitung auf den Job, den er am 9. September antritt: Brian Niccol, 50, wird Chef von Starbucks, der größten Kaffeehauskette der Welt.

Groß sind die Hoffnungen, die Belegschaft, Investoren und Kunden in den neuen Chef setzen. „Brian Niccol ist einer der angesehensten Manager der Branche“, sagt Brian Harbour, Analyst bei Morgan Stanley. Niccol war bislang Chef bei Chipotle, einer mexikanischen Restaurantkette, die in den USA rund 3400 Niederlassungen mit mehr als 100.000 Mitarbeitern betreibt. Allein die Ankündigung des Chefwechsels hat die Anleger euphorisiert, nach der Nachricht stieg der Kurs der Starbucks-Aktie um gut 20 Prozent, während jene von Chipotle gut zwölf Prozent verlor.

Einer der bestbezahlten Manager

Niccol folgt bei Starbucks auf Laxman Narasimhan, der nach nicht einmal zwei Jahren überraschend entlassen worden war. Seine Vergütung ist rund viermal so hoch wie die seines Vorgängers. Das Grundgehalt von 1,6 Millionen Dollar macht dabei noch den geringsten Anteil aus. Niccol erhält jährliche Aktienprämien in Höhe von 23 Millionen Dollar und eine Antrittsprämie von zehn Millionen Dollar, zusätzlich sind ihm 75 Millionen Dollar an Aktienzuteilungen in Aussicht gestellt – als Ausgleich für den Verzicht auf Anteile an seinem vorherigen Arbeitgeber. Erreicht Niccol die vorgegebenen Zielmarken bei Starbucks, bekommt er weitere 3,6 Millionen Dollar. Er wäre mit all diesen Einkünften einer der bestbezahlten Manager des Landes.

Brian Niccol ist verwöhnt, er weiß, dass zu seinen Bedingungen gespielt wird. Als er 2018 zu Chipotle kam, verlegte das Unternehmen kurzerhand die Konzernzentrale von Denver, Colorado, nach Newport Beach, damit der CEO seine Heimat nicht verlassen musste. Einen Umzug samt Ehefrau und drei Kindern nach Seattle, wo Starbucks seit jeher seinen Hauptsitz hat, konnte er sich offenbar auch dieses Mal nicht vorstellen. Man einigte sich, dass Niccol von seiner Heimat Newport Beach in Kalifornien aus arbeiten kann, richtet ihm dort ein „kleines Remote-Büro“ ein. Wenn er im Headquarter des Kaffeeriesen in Seattle vorbeischauen will, steht ihm dafür ein Privatjet zur Verfügung, den er in gewissem Umfang auch für private Reisen nutzen darf.

Die großzügigen Zugeständnisse werfen zwei Fragen auf: Wie groß muss die Krise bei Starbucks sein? Und wie realistisch ist es, dass Niccol es schafft, sie zu überwinden?

Die Kunden sparen

Fest steht: Bei Starbucks warten große Herausforderungen. Der einstige Glanz des Unternehmens ist verloren gegangen, die Umsätze sind zwei Quartale in Folge gefallen, obwohl der Konzern weiter in rasantem Tempo neue Filialen eröffnet. Die Zahl der Kunden, die sie aufsuchen, ist rückläufig. Die Inflation zwingt die Leute, zu sparen, und der Latte macchiato auf dem Weg zur Arbeit erscheint da noch am ehesten verzichtbar.

Der Druck, einen Kurswechsel vorzunehmen, ist aber auch deshalb hoch, weil neue Eigentümer mitmischen. Die schwächelnde Performance hat Starbucks ins Visier aktivistischer Hedgefonds gerückt, die Anteile am Unternehmen gekauft haben und nun echte Veränderungen sehen wollen. Seinen Unmut zum Ausdruck brachte auch der langjährige Vorstandschef und Anteilseigner Howard Schultz, der das Unternehmen zwar nicht gegründet, aber 1987 gekauft und seitdem maßgeblich geprägt hat.

In einem Post in dem Karrierenetzwerk Linkedin schrieb der Einundsiebzigjährige im Mai: „Führungskräfte – darunter auch Vorstandsmitglieder – müssen mehr Zeit mit denen verbringen, die die grüne Schürze tragen.“ Das war ein unmissverständlicher Seitenhieb in Richtung von CEO Narasimhan – und eine Aussage, die Brian Niccol zugleich in ein besseres Licht rückt. Denn der Manager gibt sich nahbar. Als er seine Rolle bei Chipotle antrat, hat er zunächst selbst ein Training in einem der Restaurants in Denver absolviert und beim Rollen der Burritos so manche Tortilla zerrissen, wie er dem Magazin „Fortune“ erzählte. „So lernt man, was es heißt, ein Restaurant zu betreiben.“

Unzufriedenheit bei den Mitarbeitern

Stellt sich Niccol demnächst also als „Barista“ in eine Starbucks-Filiale? Dort könnte er erleben, was viele Mitarbeiter schon lange beklagen: dass es nicht genügend Kollegen in den Läden gebe, dass das Stresslevel gerade in den Stoßzeiten enorm sei. Ausgerechnet jene sahnig-süßen Getränke, die lange die Massen in die Cafés von Starbucks gelockt haben, führen heute zu Frustration bei Kunden und Mitarbeitern: Auf der Karte von Starbucks finden sich Getränke wie „Iced White Choc Pistachio Flavour Oat Shaken Espresso“, deren Name so sperrig wie die Zubereitung aufwendig ist.

Außerdem können die Kunden ihre ganz individuelle Bestellung vor Ort oder in der für Starbucks so wichtigen App aufgeben: mit Hafer- statt Kuhmilch, mit Schlagsahne, ohne Schaum, mit weniger Eis, doppeltem Espresso und Karamellsirup. Auf diese Weise sollen über 170.000 Kombinationen möglich sein. Weil da selbst die erfahrensten Baristas nicht mehr hinterherkommen, muss man gerade morgens lange auf sein Getränk warten – so lange, dass sich viele ihren Kaffee inzwischen lieber zu Hause machen, Crème-brulée-Schaum hin oder her.

Für Starbucks ist das mehr als nur ein kleines Ärgernis – denn diese Stammkundschaft ist das Rückgrat des Geschäfts, geschätzt 80 Prozent der US-Kunden kommen jede Woche, viele von ihnen bestellen zum Mitnehmen. Gleichzeitig macht sich Starbucks auch bei denen nicht beliebt, die eine gemütliche Auszeit suchen. Die Filialen sind auf Durchsatz getrimmt, statt Sesseln sieht man immer öfter bloß noch Hocker, sogar Steckdosen und Toiletten sind plötzlich rar. Und dann ist da noch ein ganz anderes Problem: Der Kaffee schmeckt vielen nicht mehr. Dank zahlreicher kleiner Coffeeshops sind die Leute anspruchsvoller geworden – die Zeiten, als Starbucks die einzige Alternative zum Filterkaffee war, sind vorbei.

Geschicktes Marketing bei Chipotle

Starbucks muss einerseits sein Image aufpolieren und andererseits seine Produkte wieder mehr an der Nachfrage der Kunden ausrichten. Mit beidem hat Niccol Erfahrung. Dass er von Marketing etwas versteht, hat er schon bei seinem vorigen Arbeitgeber unter Beweis gestellt. Als er 2018 zu Chipotle kam, hatte das Unternehmen mit einem Skandal um verunreinigte Lebensmittel zu kämpfen, mehr als 1000 Kunden waren erkrankt.

Niccol legte den Fokus auf frische Zutaten, verschlankte das Angebot und brachte zugleich neue Gerichte auf die Karte, die sich als sehr beliebt erwiesen, etwa die mexikanischen Klassiker „Chicken al Pastor“ und „Carne Asada“. Auch wusste er soziale Medien geschickt in Werbekampagnen einzusetzen. „Brian Niccol hat das Blatt bei Chipotle erfolgreich gewendet und das Image der Marke wiederaufgebaut“, sagt Morgan-Stanley-Analyst Harbour.

Unter Niccols Ägide hat sich der Umsatz von Chipotle verdoppelt, während sich der Gewinn fast versiebenfachte. Der Aktienkurs ist seit seinem Antritt von fünf auf 50 Dollar gestiegen. Der Manager hat Chi­potles Charakter als Fast-Casual-Restaurant gestärkt: also eines, das den schnellen Service einer Fast-Food-Gastronomie mit dem Anspruch an Produkt- und Aufenthaltsqualität wie in einem richtigen Restaurant verbindet.

Die Wartezeiten waren auch bei Chipotle eines der Probleme, als Niccol antrat. Er hat es gelöst, indem er Bestellungen per App vereinfacht hat, sodass die Kunden kürzer oder gar nicht im Laden warten mussten. Zudem hat er eine weitere Produktionslinie eingeführt, auch die Vereinfachung des Menüs half. Es heißt, die Erfahrung im Fast-Casual-Segment habe bei der Wahl von Niccol als CEO von Starbucks eine wichtige Rolle gespielt.

Ein gewaltiger Karrieresprung

Niccol blickt auf eine lange Karriere in der Systemgastronomie zurück. Er studierte Ingenieurwesen in Miami, machte dann einen MBA in Chicago. Seine berufliche Laufbahn begann er beim Konsumgüterkonzern Procter & Gamble im Marketing. 2005 wechselte er zu Yum Brands, unter dessen Dach sich Marken wie KFC, Pizza Hut und Taco Bell befinden. Auch sie krempelte er schon um, bevor er zu Chipotle kam.

Wenngleich Niccol in der Branche bereits bekannt und angesehen war, bevor Starbucks ihn verpflichtete, ist der neue Job auch für ihn ein gewaltiger Karrieresprung. Chipotle ist vornehmlich auf dem amerikanischen Markt relevant, in Europa gibt es nur vereinzelt Filialen. Ein globaler Konzern ist Chipotle mitnichten, ganz anders als Starbucks. Mit mehr als 38.000 Cafés ist das Unternehmen auf der ganzen Welt vertreten, in Metropolen und Kleinstädten, in Bahnhöfen, Flughäfen und Einkaufszentren von Seattle bis Shenzhen. Mancher Analyst hält die Euphorie der Anleger mit Blick auf Niccol daher für verfrüht. Die Liga, in der er jetzt spielt, sei eine ganz andere, die bisher gesammelten Erfahrungen daher nur zu einem gewissen Grad übertragbar.

Da wären zum Beispiel die Beschäftigten, die Niccol besänftigen muss. Die 2021 gegründete Gewerkschaft „Starbucks Workers United“ wächst rasant, und der Widerstand des Managements gegen bessere Arbeitsbedingungen hat das Unternehmen bei vielen in ein schlechtes Licht gerückt. Der Kampf gegen die eigenen Beschäftigten passt nicht recht zu dem, was Starbucks einst sein wollte: ein „Third Place“ neben dem eigenen Zuhause und dem Arbeitsplatz, wo geplaudert, gearbeitet und entspannt werden kann. Heute gilt das grüne Logo mit der Meerjungfrau vielen als Kapitalismusemblem schlechthin, übertrumpft nur vom Coca-Cola-Schriftzug oder dem gelben M von McDonalds.

Von seinen Wurzeln entfernt

Dabei war Starbucks zunächst bloß ein Händler von Kaffee, Tee und Gewürzen, gegründet 1971 von drei linksliberalen Freunden. 1982 wurde Howard Schultz als Marketingchef eingestellt, da hatte Starbucks gerade vier Filialen. Fünf Jahre später übernahm Schultz die dann bereits 17 Filialen und verwandelte sie in Cafés mit Sitzgelegenheiten.

Der Aufstieg von Starbucks begann mit einer Reise von Schultz nach Mailand, so zumindest will es die Gründungslegende. Er brachte die italienische Kaffeekultur, die er dort kennenlernte, nach Seattle – und schnell in viele weitere Städte in den USA. Starbucks verkaufte fortan ein Lebensgefühl: Genuss statt Koffeinkick, Cappuccino statt Filterkaffee. Oder, wie Schultz es selbst formuliert: „Starbucks hat eine Industrie erschaffen, die es vorher nicht gab.“ Zumindest nicht in Amerika, zumindest nicht in dieser Größenordnung.

Ab den 1990er-Jahren war Starbucks angesagt bei der Elite Hollywoods, die sich bereitwillig mit großer Sonnenbrille, Flipflops und Pappbecher unter der südkalifornischen Sonne ablichten ließ. Schultz führte das Unternehmen in jenen Jahren auf den Expansionskurs, auf dem es sich bis heute befindet. Sein Wachstum generiert Starbucks vor allem durch Franchisenehmer, in Deutschland etwa betreibt das Unternehmen keine eigenen Filialen. Allein in den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Coffeeshops fast verdoppelt.

Auch das ist ein Grund, weshalb heute weder von dem Charme der alten Tage noch von der Coolness der Neunziger- und Nullerjahre etwas übrig geblieben ist. Aber weshalb sollte ein Kunde dann noch die hohen Preise bei Starbucks bezahlen, wo es doch längst günstigere Wettbewerber mit ganz ähnlichen Produkten gibt?

Auf diese Frage muss Brian Niccol nun eine Antwort finden. Er bringt die Erfahrung mit, kennt die nötigen Werkzeuge. Dem guten Ruf, der ihm vorauseilt, muss er aber erst einmal gerecht werden. Vor allem muss er neue Ideen für die Marke entwickeln, ein neues Konzept. Dabei hilft sicherlich der ein oder andere Kaffee.