Lisa Paus: Die Jugend entzieht uns dies Vertrauen
Immer mehr junge Menschen trauen den größeren demokratischen Parteien nicht mehr zu, dass sie die Belange der jungen Generation kennen. Sie glauben uns nicht, dass wir ihre Interessen und Bedürfnisse ernst nehmen. Aktuelle Jugendstudien bestätigen das. Und wer daran zweifelt, möge die letzten Wahlergebnisse betrachten.
Dass sich das Potenzial für rechtsextremistische Einstellungen in der jungen Generation verstärkt, ist besorgniserregend, und entspricht leider einer Entwicklung in allen Altersgruppen. Auch wählen junge Menschen häufiger kleine Parteien mit Fokus auf wenige Kernthemen. Es ist also höchste Zeit für Selbstkritik der großen Parteien, und ja, auch der Bundesregierung. Hohe Zeit auch für mehr politische Bildung, für kritische Medienbildung. Und – das ist mir als Bundesjugendministerin besonders wichtig – Zeit für eine jugendgerechte, eine generationengerechte Politik.
Wir brauchen eine veränderte Haltung – vor allem der mittleren und der älteren Generation. Wir brauchen einen klaren Blick auf die Bedürfnisse junger Menschen und auch künftiger Generationen – heute und später. Und wir brauchen den Mut, uns von dieser Haltung und diesem Blick leiten zu lassen: Wenn wir Entscheidungen treffen, wenn wir planen, wenn wir finanzielle Ressourcen verteilen.
Das Verhältnis der Generationen: Persönlich gut, gesellschaftlich angespannt
Immer weniger Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene stehen immer mehr Älteren gegenüber. Diese Bundesregierung hat mit einer neuen Einwanderungspolitik begonnen, dem etwas entgegenzusetzen. Denn der demographische Wandel ist längst Alltagsrealität und stellt uns vor große Aufgaben. Gleichzeitig werden polemische Debatten über die „Gen Z“ oder die „Boomer“ geführt, mit abfälligen Verallgemeinerungen. Dabei neigen wir zu vergessen: Generationen waren und sind nie homogen – weder ist es die heutige Jugend noch waren es beispielsweise die 68er in Westdeutschland.
Im eigenen Umfeld dann entdecken wir eine fast überraschende Harmonie: Junge wie Ältere beschreiben ihre persönlichen Beziehungen zu ihren Kindern, Großeltern, zu jüngeren und älteren Nachbarn als erfüllend, als stärkend. Sie sind ihnen wichtig. Der Blick auf die gesellschaftlichen Generationenverhältnisse fällt hingegen deutlich pessimistischer aus: Interessenskonflikte stoßen aufeinander. Wie kann das sein?
Aufwachsen in Krisenzeiten: Die Lage der jungen Generation
Junge Menschen in Deutschland wachsen in ihrem eigenen Zimmer auf oder in Notunterkünften. Sie sind in der Jugendfeuerwehr aktiv, engagieren sich in Umweltverbänden oder treffen sich einfach so mit Freunden. Ihre Freizeit verbringen sie auf dem Bolzplatz, am Smartphone oder in der Natur. Manche träumen von einer Karriere als Influencer oder Ärztin. Sie sind in Chemnitz oder Cherson geboren, in Bottrop oder Damaskus. Einige sind queer, streng religiös oder politisch aktiv. Und manchmal auch alles zusammen. Sie sind die vielfältigste junge Generation, die es je gab.
Und gleichzeitig einen sie gemeinsame Bedürfnisse, heute und in Zukunft: Sie brauchen Schutz, um unbeschwert und sicher aufwachsen zu können. Sie brauchen Förderung, um sich zu entfalten. Sie brauchen Teilhabe, damit sie trotz ungleicher Startbedingungen gute Perspektiven haben. Und sie brauchen Zuversicht beim Blick in die eigene Zukunft. Für diese Zuversicht müssen wir gemeinsam Grund geben. Anlässe bieten.
Die junge Generation macht sich heute deutlich mehr Sorgen als in vergangenen Jahrzehnten. Die Krisen der vergangenen Jahre – in sozialen Medien intensiv ausgeleuchtet – haben bei vielen jungen Menschen auch seelische Spuren hinterlassen; einige Veränderungen erleben sie als fundamental und andauernd: Kriege und Konflikte weltweit, eine hohe Fluchtmigration und der evidente Klimawandel. Und während Politik Prioritäten setzen muss, sieht die junge Generation ihre Belange häufig nicht ausreichend beachtet. Das stimmt, und diese Erkenntnis prägt auch den Rückblick vieler junger Menschen auf die Corona-Pandemie.
Zugleich ängstigt sie die von vielen geteilten Sorgen vor einer Schwächung von Wirtschaft und Sozialstaat, auch weil immer mehr Arbeitskräfte fehlen. Darum möchte ich es insbesondere jüngeren Frauen erleichtern, sich den Arbeitsmarkt zu erobern, ihr Potenzial zu heben – indem wir Rahmenbedingungen schaffen, in denen sich Beruf und Familie besser vereinbaren lassen. Deshalb plane ich weitere Investitionen in die Qualität und in Fachkräfte für Kitas. Deshalb dringe ich auf die Familienstartzeit, die ich schon vor vielen Monaten in die Ressortsabstimmung gegeben habe und die bei so vielen Unternehmen auf große Zustimmung stößt.
Ich erlebe viele junge Menschen als optimistisch. Sie haben Vertrauen in ihre eigene Gestaltungsmacht. Das verdient Anerkennung. Und es verdient eine ernsthafte Debatte über einen neuen Generationenvertrag.
Wir brauchen einen weiterentwickelten Generationenvertrag
Als Jugendministerin bin ich überzeugt: Wir brauchen eine neue Grundlage, auf der alle Generationen in unserer vielfältigen Gesellschaft gleichberechtigt miteinander leben. Das setzt ein weiterentwickeltes Verständnis von Generationengerechtigkeit voraus: Wir müssen unseren Generationenvertrag neu aushandeln.
Generationengerechtigkeit gehört nicht zu den expliziten Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes. Gleichzeitig ist sie eine Grundbedingung für zwei Verfassungsprinzipien – für Demokratie und Sozialstaat.
Wie aber funktioniert eine Demokratie, in der die größte Gruppe der Wahlberechtigten von Personen ab 70 Jahren gestellt wird? Wie gelingt ein Gemeinwesen, wenn in zehn Jahren mehr als 20 Millionen Menschen in Deutschland im Ruhestand sind? Wie kümmern wir uns umeinander, wenn Pflegekräfte ebenso rar sind wie Erzieherinnen und Erzieher?
Wir alle sind zum Nachdenken und Handeln gefordert, wie wir einen generationengerechten Sozialstaat und eine dynamische und innovative Wirtschaft gestalten können – über alle Ressortgrenzen hinweg.
Die junge Generation braucht die Älteren. Aus deren zahlenmäßiger Übermacht erwächst Verantwortung. Generationengerechtigkeit und Demokratie sind nicht voneinander zu trennen. Junge Menschen haben ein Recht auf Mitbestimmung, auf den Ausgleich von Nachteilen, auf gerechte Verfahren. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen – sonst riskieren wir, sie zu verlieren.
Der weiterentwickelte Generationenvertrag soll vier Verabredungen enthalten:
Erstens: Wir gleichen Nachteile für einzelne Generationen aus. Spätestens in der Corona-Pandemie haben wir gelernt: Unter besonderen Umständen – etwa zur Abwendung einer Gefahrenlage – ist es zulässig, einzelne Generationen vorübergehend zu benachteiligen. Das hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt und die Schulschließungen im Zuge der Bundesnotbremse nachträglich legitimiert. Gleichzeitig stellte es fest: Es gibt ein Recht auf Bildung – und solche Nachteile für einzelne Generationen sind weder leichtfertig noch unbegrenzt in Kauf zu nehmen.
Meine Haltung ist: Unsere demokratische Gesellschaft verträgt keine systematischen Nachteile für Einzelne und für einzelne Generationen. Wenn wir sehen, dass junge Menschen in der Corona-Pandemie für lange Zeit benachteiligt wurden – als sie weder gemeinsam lernen, noch Sport, Musik oder Freizeit zusammen erleben durften –, dann ist es an uns, alles dafür zu tun, dass sie sich jetzt gut entwickeln können. Und wenn junge Menschen massive und lebenslange Nachteile davontragen, weil sie in Armut aufwachsen, dann brauchen wir angemessene Antworten: Eine dringend notwendige Antwort ist die Kindergrundsicherung, die die Bundesregierung verabschiedet hat und die zurzeit im Parlament mit Hochdruck verhandelt wird. Eine andere ist das Startchancenprogramm der Bundesregierung, das gezielt Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler unterstützt. Gemeinsam stellen Bund und Länder in den kommenden zehn Jahren insgesamt rund 20 Milliarden Euro zur Verfügung: Damit sind die „Startchancen“ das größte Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beides steht exemplarisch dafür, was notwendig ist.
Zweitens: Wir sichern Lebensgrundlagen und Spielräume für alle Generationen. Der Philosoph Otfried Höffe stellt fest: Eine verantwortliche Gesellschaft übergibt nachfolgenden Generationen nur so viel an Lasten, wie sie durch Zukunftsinvestitionen zumindest ausgleicht. Generationengerechtigkeit heißt eben auch, dass jede Generation in etwa die gleichen Möglichkeiten haben muss, von ihren staatlich garantierten Freiheitsrechten Gebrauch zu machen. Dieser Grundrechtsschutz erschöpft sich nicht im Jetzt, denn Freiheitsgarantien würden ins Leere laufen, würden demokratische Institutionen und natürliche Ressourcen nicht erhalten.
Wir müssen also jetzt dafür sorgen, dass auch nachfolgende Generationen noch genügend natürliche Lebensgrundlagen zur Verfügung haben und sie ihre Freiheit tatsächlich ausüben können. Der Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hat genau das klargestellt. Und auch aus dem UN-Kinderrechtsausschuss kommen entsprechende Signale. Dieser Auftrag zur Freiheitssicherung nachfolgender Generationen würde im Übrigen auch dann gelten, wenn die Jugend zahlenmäßig überlegen wäre.
Diese verantwortliche Gesellschaft will ich mitgestalten. Wir müssen den Anspruch haben, künftigen Generationen möglichst wenig Schulden zu hinterlassen – im umfassenden Sinne. Es geht darum, in welchem Zustand wir ihnen dieses Land übergeben. Fest steht: Die Schuldenbremse ist dann generationengerecht, wenn sie das Recht junger Menschen auf Zukunft nicht gefährdet. Aber Externalitäten – also Kosten, die nicht der Verursacher, sondern Dritte tragen: meist die Gesellschaft – sind in der Schuldenbremse bisher nicht berücksichtigt. Das gilt insbesondere für Klimaschulden. Auf der anderen Seite zahlen sich Investitionen sehr konkret für uns alle aus, wenn sie den Bedürfnissen der jungen Generation gerecht werden, sei es in Klimagerechtigkeit, in Bildung oder etwa auch in Wohnraum und Infrastruktur für die Kinder- und Jugendhilfe.
Grundsätzlich sollten wir unsere Zukunftsinvestitionen deutlicher als bisher auf ihre Wirksamkeit und Reichweite in der Breite der Bevölkerung hin prüfen – mit einem klaren Fokus auf die Jugend. Im Rahmen der OECD werden solche Prozesse unter dem Stichwort Lebensqualität-Haushalt diskutiert; einige Staaten wenden diesen Maßstab schon an. In Deutschland steht diese Diskussion noch am Anfang und wird oft auf Wohlstandsindikatoren verkürzt. Tatsächlich aber geht es darum, die Mittel stärker anhand gemeinsamer ressortübergreifender Ziele einzusetzen. Darum, mehr Synergien zwischen den einzelnen politischen Handlungsfeldern zu erzielen. Das hat den Vorteil, dass der Haushalt über verschiedene Bereiche der Regierung hinweg strategischer an der tatsächlichen Lebensqualität ausgerichtet werden könnte.
Damit sinkt auch die Wahrscheinlichkeit, dass Regierungsbehörden nur ihre Bereiche berücksichtigen. Durch ein ganzheitliches Konzept der zu berücksichtigenden Ziele kann die Kooperation, Konsistenz und Kohärenz zwischen den Regierungsbehörden gefördert werden. Solch ein Rahmen ermöglicht idealerweise auch mehr Planungssicherheit für die Zukunft. Zusätzlich würde ein solches Lebensqualitätsbudget den Regierungen ermöglichen, zu prüfen, ob der heutige Wohlstand auf Kosten des Wohlstandes von künftigen Generationen erzielt wird.
Drittens: Wir gewährleisten Mitbestimmung und Verfahrensgerechtigkeit für alle Generationen. Zu wählen ist das vornehmste Recht in einem demokratischen Staat. Darum freue ich mich, dass an der Europawahl erstmals 16-Jährige teilnehmen konnten. Und ich appelliere daran, das Wahlalter auch für die Wahlen zum Deutschen Bundestag auf 16 Jahre zu senken – und Kinderrechte endlich im Grundgesetz zu verankern.
Bei der Mitbestimmung junger Menschen geht es um Augenhöhe. Das sollte ohnehin Grundregel unseres demokratischen Diskurses sein – unabhängig davon, wann ein Mensch geboren ist. Diejenigen, die von unseren Entscheidungen heute am längsten betroffen sein werden, müssen wahrhaft und wirksam beteiligt werden.
Wir wissen: Entscheidungen in allen Politikfeldern und Gesellschaftsbereichen haben Auswirkungen auf junge Menschen. Bei Arbeitsmarktreformen, beim Thema Rente, bei Digitalisierung und Mobilität oder natürlich auch beim Klimaschutz. Wir müssen bei allen Entscheidungen mitbedenken, wie sich diese auf einzelne Generationen auswirken. Mir gefallen Prüfinstrumente wie der Jugend-Check, um Gesetzesfolgen besser abschätzen zu können. Ebenso könnte das Prinzip der Generationengerechtigkeit Eingang findet in die gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesregierung
Viertens: Wir stellen das Miteinander über Interessenskonflikte. Wir sollten uns zurückhalten, unter der Überschrift Generationengerechtigkeit Alt gegen Jung, Rentenzahlungen gegen Kindergeld auszuspielen. Wir brauchen kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander! Alle Generationen haben spezifische Interessen, Bedürfnisse und Perspektiven. Erst recht eint sie der Wunsch nach Sicherheit und gesellschaftlichem Zusammenhalt und meist eine große Bereitschaft zu freiwilligem Engagement.
Ich bin keine Anhängerin von Dienstpflichten. Hier gibt es einschlägige Grenzen in unserer Verfassung, die es zu beachten gilt.
Wir können nur gemeinsam gewinnen. Alle Maßnahmen, die ein starkes Miteinander sichern, zählen in Zeiten wie diesen. Damit meine ich alle Generationen und uns alle – als freiheitliche demokratische Gesellschaft. Bemühen wir uns also wieder darum, trotz aller Kontroversen in der Sache ruhig zu argumentieren, die Meinung des anderen auszuhalten – uns als Menschen zu respektieren.
Wie schaffen wir das? Wo treffen wir uns? Mehr Wohlwollen, mehr echte Begegnungen zu schaffen – und damit eine neue Gemeinsamkeit – das kann uns durch diese und die nächste Krise helfen.