Aus hunderttausend Solardächern wird ein Großkraftwerk

Das Berliner Energie-Start-up Enpal hat seit der Gründung des Unternehmens im Jahr 2017 fast 70.000 Solaranlagen auf die Dächer von Privatkunden in Deutschland geschraubt. Bis zum Jahresende sollen es rund 100.000 Anlagen sein. 2025 könnten noch einmal so viele Solardächer hinzukommen. Da­rüber hinaus hat Enpal bereits Tausende Energiespeicher, Ladestationen für Elek­troautos und Wärmepumpen bei seinen Kunden installiert. Schon im nächsten Jahr könnte ein Teil dieser Anlagen als eines der größten virtuellen Kraftwerke in Europa am Energiemarkt auftreten.

„Wenn man Einzelhaushalte gegen die Strompreiskurve optimiert, kann man ganz viele Dinge gar nicht machen, weil der Strommarkt nicht für solche Größen gedacht ist“, sagt Benjamin Merle, Leiter der Produktentwicklung bei Enpal, zu den Plänen für das virtuelle Kraftwerk. „Man kann eine einzelne Kilowattstunde nicht am Energiemarkt handeln“, sagt er über derzeit noch fehlende Optimierungsmöglichkeiten für die Anlagen der Kunden. Um mit dem auf den Solardächern erzeugten Strom zu handeln und auch die Speicher für die Optimierung am Strommarkt zu nutzen, müssten die Einzelanlagen zu einer Flotte zusammengeschlossen werden, die am Energiemarkt wie ein Kraftwerk im Gigawattmaßstab auftritt. „Das ist es, was wir un­ter einem virtuellen Kraftwerk 2.0 ver­stehen“, sagt Merle. Und genau das will Enpal in einem Joint Venture mit dem Münchner Energiesoftwareunternehmen Entrix noch in diesem Jahr auf den Weg bringen. Dafür investiert Enpal einen zweistelligen Millionenbetrag, mit dem sich die Berliner die Mehrheit an dem Ge­meinschaftsunternehmen Flexa sichern. Bereits im vergangenen Jahr hatte sich Enpal an Entrix beteiligt.

Auch hier kommt KI zum Einsatz

Flexa soll schon in wenigen Jahren mit mehreren Gigawatt installierter Leistung am Energiemarkt auftreten und damit nicht nur Geld für Enpal und seine Kunden verdienen, sondern auch netzdien­liche Leistungen wie Frequenzregelung, Spannungshaltung sowie Kapazitätsreserven für bessere Netzstabilität erbringen. Während Enpal die dezentralen Solaranlagen und Speicher seiner Kunden, inklusive eines intelligenten Energiemanagementsystems, in das Joint Venture einbringt, kommt von der 2021 gegründete Entrix eine auf Künstlicher Intelligenz basierende Stromhandelsplattform, mit der das Unternehmen bislang vor allem Großspeicher für institutionelle Investoren optimiert.

„Wir besitzen die Anlagen nicht, sondern werden von den Besitzern beauftragt, sie in den Markt zu bringen und optimal zu nutzen“, beschreibt Sébastien Schikora, Chief Technology Officer von Entrix, das Geschäftsmodell. Das Optimierungsproblem für Großanlagen sei erheblich einfacher zu lösen als die Aufgabe bei Flexa, sagt Schikora, der auch in dem Joint Venture die Rolle als Chief Technology Officer übernimmt. „Wir müssen jederzeit ein klares Bild des gesamten Netzwerks haben“, sagt er über die Herausforderung, Daten von Zehntausenden Solardächern, Speichern, Ladestationen und Wärmepumpen in Echtzeit zu aggregieren und gestützt darauf Vorhersagen für alle Komponenten des virtuellen Kraftwerks zu treffen, damit der Algorithmus von Entrix Chancen auf dem Energiemarkt nutzen kann.

Mit den Herausforderungen verteilter Energiesysteme kennt sich Schikora aus. Vor seiner Rückkehr nach Deutschland war er für die digitale Produktentwicklung aller stationären Batterien im virtuellen Kraftwerk von Tesla verantwortlich.

„Löwenanteil“ soll an die Kunden gehen

Doch was passiert, wenn die Künst­liche Intelligenz mit ihren Vorhersagen für das virtuelle Kraftwerk doch einmal danebenliegt und der Algorithmus auf dem Energiemarkt Strom verkauft, den der Kunde von Enpal eigentlich für die Waschmaschine benötigt? „Es ist ausgeschlossen, dass die Stromversorgung für den Privathaushalt unterbrochen wird, und wir stellen sicher, dass kein Schaden an einem Haushaltsgerät entstehen kann“, sagt Vjekoslav Salapic, der die Produktentwicklung bei Flexa verantwortet. Stattdessen soll der Endverbraucher kräftig von den Optimierungsmöglichkeiten des virtuellen Kraftwerks im Energiemarkt profitieren.

„Die Idee ist, den Löwenanteil an den Kunden weiterzugeben“, sagt Benjamin Merle, Leiter der Produktentwicklung von Enpal. Für durchschnittliche Kunden komme man in ersten Simulationen auf Zusatzerlöse in der Größenordnung von 300 bis 600 Euro im Jahr. Wer neben einer Solaranlage und einem Speicher auch über eine Ladestation für ein Elek­troauto und eine Wärmepumpe verfüge, komme wegen der zusätzlichen Opti­mierungsmöglichkeiten schnell auf 1000 Euro und mehr.

Schwärmen vom virtuellen Kraftwerk

„Viele Kunden werden mehr Geld bekommen, als ihre Reststromrechnung ausmacht“, sagt Merle. Veränderungen im regulatorischen Umfeld würden schon bald zusätzliche Chancen eröffnen. „Es wird in Zukunft nicht nur um die Skalierung des virtuellen Kraftwerks gehen, sondern auch um die Anpassung an neue Regulierung und das Ausschöpfen von neuen Erlösquellen für unsere Kunden“, sagt Salapic, der vor der Gründung von Flexa die Entwicklung von virtuellen Kraftwerken bei der Eon-Tochter GridX voranbrachte. „Mit Flexa, Enpal und En­trix haben wir die Möglichkeit, ein vertikal voll integriertes System zu bauen, das die gesamte Wertschöpfungskette eines virtuellen Kraftwerks abbildet.“

Mit den ersten Kunden simulieren Enpal und Entrix schon heute die Funktionsweise des geplanten virtuellen Kraftwerks. „Es geht darum, zu lernen, wie das System reagiert“, sagt Enpal-Manager Merle. Lernen soll vor allem die Künstliche Intelligenz, mit der Flexa die Signale generieren will, die dem virtuellen Kraftwerk die Teilnahme am Energiemarkt ermöglichen. Im Herbst soll das Joint Venture bereits mit mehreren Hundert Anlagen aus dem Enpal-Portfolio testen. „Eine Größe, mit der man auch schon sinnvoll im Intraday-Markt handeln kann“, sagt Merle. Noch in diesem Jahr soll dann der Roll-out auf die ganze Flotte starten. Schon im nächsten Jahr könnten die Berliner mit einem virtu­ellen Kraftwerk aus Solardächern und Speicherinfrastruktur mit der installierten Leistung eines Atomkraftwerks am Markt teilnehmen.

„Bei einer Solaranlage ist bei unseren Kunden ein Speicher mit durchschnittlich 10 Kilowattstunden Kapazität dabei, der 5 Kilowatt Leistung abgeben kann. Zusammen mit einer Ladesäule ist man schon bei 15 Kilowatt, bei 100.000 An­lagen kommt man auf 1,5 Gigawatt“, rechnet Merle vor. Das entspricht etwa der Nennleistung des ehemals größten deutschen Atommeilers Isar 2, der im April 2023 vom Netz gegangen ist. Es wäre ei­nes der größten virtuellen Kraftwerke in Europa. „Wir werden so groß wie ein Atomkraftwerk, sind aber viel fähiger als ein Atomkraftwerk“, betont Sébastien Schikora. Denn die verteilten Anlagen könnten, anders als ein Nuklearkraftwerk, innerhalb von Millisekunden auf Veränderungen im Strommarkt reagieren, sagt der Technologiechef von Flexa.