Das Logbuch verglüht: – Willkommen zwischen den Zeitenwänden, 5.10
“Ganz Hannover hasst die AFD!”, ist linkerhand am Ende unserer Einkaufsmeile zu hören. “Ganz” Hannover? Die Blaubehemdeten zur Rechten der Einkaufsmeile amüsieren sich an ihrem Wahlkampfstand recht köstlich über die gegenüberstehenden Demonstranten, die sich selbst offensichtlich dem linken Spektrum zuordnen. Kurz vor beiden Gruppen versperrt die Polizei die ohnehin viel zu breite Passage. Aus dieser Zone herauskommen tut man nur, indem man einen Regenbogenstreifen auf der einsäumenden Straße passiert. Ja, Sie haben richtig gelesen: “Regenbogenstreifen” – mitten auf die Straße gemalt an einer Stelle, wo seit Jahren ein Zebrastreifen fehlt. Intessanterweise findet man diese Regenbogenstreifen auch als Fahnen vor dem niedersächsischen Verkehrsministerium. Nach Manuel Neuers Fußball-Nationalmannschaft und Nancy Fesers Innenministerium verabschiedet sich offensichtlich eine weitere Institution aus ihrer angestammten Identität in die Diversität – zumindest für den Christopher-Street-Day, der sich nach sage und schreibe einem guten halben Jahrhundert auch in Hannover wie infektiös ausbreitet. Hannover war ja schon immer langsam, doch dieses Tempo toppt wirklich alles! Frei nach Ina Deters “Frauen kommen langsam – aber gewaltig” (welch selige Zeiten, als man zwischen den Geschlechtern noch Unterschiede feststellen durfte), gleicht der Demonstrationszug dieses Mal einem Tsunami, der mich auf dem Flohmarkt mit voller Wucht erwischt. Wie eine Flutwelle quillt die Menschenmasse über die zugewiesene Strecke hinaus, überschwemmt Rad- und Fußweg, den kleinen Grünstreifen der “Mike-Gehrke-Promenade” und bricht in die Gasse zwischen den Ständen ein, an denen einige vorausschauende Händler ihr bewegliches Gut bereits abgebaut haben. Kleine Trauben bilden sich lediglich an den Toiletten – der Rest der fast ausschließlich sehr jungen und so gar nicht queer aussehenden Manschen wackelt vergnügt im Takt einer wie gewohnt primitiven Wummerbeschallung (s. a. letzter Beitrag), die selbst vor “Boney M” nicht Halt macht. Fahnentechnisch jedoch sind sie hier schon weiter: In die Regenbogenstreifen eingelassen taucht nun ein Dreieck auf – geometrisch ähnlich dem der Palestinenserflagge – in dem sehr pastellene Töne sowie ein sattes Braun auftauchen. Danach gefragt, was diese ganzen neuen Farben denn nun zu bedeuten haben, äußern sich drei junge Mädchen etwas unsicher: irgendwas internationes und besonders diverses halt. Bei näherem Hinsehen fällt auf, dass viele der kleineren Winkelemente das Logo eines hannoverschen Gummiherstellers tragen. Aha? In Corona-Zeiten die eigene Hütte jahrelang nicht fertig gebaut bekommen, südamerikanischen Mitarbeitern die Menschenrechte versagen, und gleichzeitig heimlich im Keller Wimpel für die sexuelle Weltrevolution drucken? Wen wundert es da noch, wenn selbst der friedliebenste Schallplattenverkäufer auf dem Flohmarkt in diesen Tagen zum Verschwörungstheoretiker wird.
Zurück zum ersten Tumult dieses Tages: Die armen Linken scheinen – legt man die mageren Umfrage- und Wahlergebnissen der gleichnamigen Partei als Maßstab an – bereits seit vielen Jahren keine Heimat im Sinne der parlamentarischen Ordnung mehr zu haben. Und weil sie niemanden wählen können oder wollen, stehen sie hier zwischen Kaufhäusern und Polizisten herum – beide lehnen sie übrigens ab – und hassen diejenigen, die wissen, warum und für wen sie hier stehen. Übrigens auffallend lautlos, als wollten sie zeigen: “Krakelt hier nur rum, ihr linken Löffel, wir kriegen euch schon noch!” Und die Löffel merken gar nicht, dass sie selbst es sind, die faschistoide Züge an den Tag legen. Als ich – heute übrigens in einer brauner Jacke (St. Pauli steigt auf!) – ein Gespräch mit den jungen Leuten zu beginnen versuche, mischt sich ein Zugewanderter ein. Pomadig geschniegelt vom Scheitel bis zur Sohle muss er den linken Pickelgesichtern erstmal klarmachen, in was für einem freien Rechtsstaat sie hier doch leben. Keine Einigkeit an diesem Punkt, zu unterschiedlich sind die Welten, in denen sie leben – selbst auf diesen vier Quadratmetern Pflaster der durchschnittlichsten Großstadt Deutschlands. Lediglich gegen die AFD sind sich beide Parteien einig. Wo jetzt also in diesem Gespräch auf die Schnelle einen hassenswerten Feind herzaubern, den man diffamieren und beleidigen kann? Zum Glück stehe ich ja noch daneben – und mit einer (von mir unbeantworteten) Frage, mit der der frisch gegeelte Zuwanderer unter Beweis stellt, dass er trotz vermutlich deutscher Papiere noch den Mullah im Geiste trägt, sind die Fronten geklärt: Der alte Mann mit weißem Bart und brauner Jacke soll rübergehen zu den Blauen. Selbstverständlich ist er der “Fascho” hier, und ein “Arschloch” dazu. Richtig absurd wird es, als ich den Geschniegelten kurz darauf für seine Unverschämtheit zur Rede stelle. Denn jetzt sind es deutschstämmige Bierbäuche in Billigdruck-T-Shirts, die wiederum mich angehen, weil ich einen Ausländer kritisiere. Ob im Recht oder nicht im Recht – jegliche Differenzierung stört nur. Hier gibt es nicht die geringste Aussicht auf zivilisierten Austausch mehr, man kann eigentlich nur noch weggehen. Aber heute – eine Ausnahme für mich – entscheide ich mich dafür, stehenzubleiben und dem Gegenüber tief in die Augen zu schauen. Doch da ist nichts und da wird vermutlich auch nichts mehr werden. Ich bin am Bodensatz angekommen, tiefer geht es nicht mehr. Doch ich will nicht ein weiteres Mal verbal in den Rücken geschossen werden – das passiert mir zu oft und diesmal bleibe ich einfach stehen, sage gar nichts mehr und blicke weiter tief in die dümmlichen Augen rund vierzig Zentimeter vor mir. Heute beleidigt oder bedroht mich niemand mehr!
Zuletzt treffe ich (zum Glück) auf eine beseelt singende, tanzende und fahnenschwenkende Christentruppe. Auch sie tragen pastellfarbene Fahnen, sodass ich zunächst nicht weiß, ob es sich nicht doch um eine versprengte CSD-Kompanie handelt. Zumindest sind ihr Fahnen so groß wie die in den Propagandafilmen aus Nordkorea und werden ähnlich kunstvoll geschwungen. Kaum bin ich stehengeblieben, steht auch schon eine Missionarin neben mir. Sie stellt sich als “Natalie” vor und zeigt sich nach fünfminütigem Gespräch überrascht, dass ich weit klüger zu sein scheine, als sie zunächst vermutet hatte. Abschließend fragt sie mich, ob sie heute abend für mich beten dürfe. Darfst du, Natalie … doch ich denke, du solltest besser für die Unterentwickelten und Verwirrten beten, die ich am heutigen Tag vor dir getroffen habe.
Ich hätte es nie für möglich gehalten, doch mittlerweile wünsche ich mir eine “Welthauptstadt des Mittelmaßes” zurück, in der es auf den Straßen Platz für die ganz normalen Alltäglichkeiten zwischen Liebe und Hass gibt. Oder ist das Verschwinden der Räume zwischen Liebe und Hass etwa die neue Mitte(lmäßigkeit)?