20 Jahre Hartz-IV-Proteste: „Die Linke hat kein Interesse mehr an Arbeitslosen“

Es ist genau 20 Jahre her: Am 30. August 2004 demonstrierten mindestens 200.000 Menschen in über 200 deutschen Städten. Es war der Höhepunkt einer wochenlangen Protestbewegung gegen die von SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder vorangetriebenen Hartz-IV-Reformen, die am 1. Januar 2005 in Kraft traten. Anne Seeck war damals eine der Demonstrantinnen. Wundert es sie nicht, dass heute keiner gegen das Bürgergeld auf die Barrikaden geht? Und das, obwohl für Arbeitslose mittlerweile strengere Regeln gelten als zu Hartz-IV-Zeiten? Ein Gespräch über die Frage, unter welchen Bedingungen arme Menschen ihre Wut auf die Straße tragen.

der Freitag: Frau Seeck, seit Monaten gibt es einen Streit um das Bürgergeld. Wie haben Sie diese Auseinandersetzungen erlebt?

Anne Seeck: Ich erlebe diese Hetze gegen Bürgergeldbezieher als persönlich bedrohlich. Als Grundsicherungsbezieherin hänge auch ich am Regelsatz. Worüber regen sich die Leute denn auf? Darüber, dass das Bürgergeld am 1. Januar um zwei Euro am Tag angehoben wurde? Schon will die FDP es wieder um bis zu 20 Euro absenken. Ich finde das unglaublich.

Vor 20 Jahren sind Tausende gegen Hartz IV auf die Straße gegangen – Sie auch. Welche Erinnerungen haben Sie an damals?

Ich kann mich erinnern, dass ich bei der ersten Montagsdemo am 16. August 2004 sprechen sollte, aber die keinen Lautsprecherwagen hatten. Ich fragte bei der MLPD, aber die ließen mich nicht reden. Dann stand ich auf dem Attac-Wagen und sah in die Gesichter. Ganz normale Leute, die die Linke heute nicht mehr erreicht. Plötzlich stürmten die Menschen zur SPD-Zentrale. Sie waren wütend. Bei der zweiten Montagsdemo vor der Grünen-Zentrale konnte ich dann endlich sprechen.

Die Anti-Hartz-Proteste waren hauptsächlich in Ostdeutschland stark. Hat Sie das als Ex-DDR-Oppositionelle angesprochen?

Ich war doch gar keine aktive DDR-Oppositionelle. Ich habe dort nach einem Studienabbruch als Ungelernte in vielen Jobs gearbeitet. In den 1980er Jahren war ich subkulturell unterwegs und stellte einen Ausreiseantrag. Am 8. November 1989 wurde meine Entlassungsurkunde aus der DDR-Staatsbürgerschaft ausgestellt. Im Westen hab ich dann studiert und bin als Alleinerziehende, trotz vieler Bewerbungen, in die Sozialhilfe gefallen. Bin dann wohl eine „Totalverweigerin“ in zwei Systemen …

Die Anti-Hartz-Proteste entstanden nicht aus dem Nichts, sondern hatten eine Vorgeschichte.

Sie begannen bereits vor den Wahlen 2002. Damals gründete sich der „Runde Tisch der Erwerbslosen“ neu. Den hatte es bereits 1998 bei den Erwerbslosenprotesten gegeben. Diesmal, 2002, beteiligten sich allerdings nicht die gewerkschaftlichen Gruppen, denn die SPD war schließlich an der Macht. Im Oktober entstand dann in Berlin das Anti-Hartz-Bündnis.

Welche Aktionen gab es da?

Viele. Bei einer Aktion wurde zum Beispiel der „Goldene Tretstiefel“ an das mieseste Sozialamt der Republik überreicht.

Wo lag das?

In Neukölln, für uns jedenfalls.

Anfang Oktober 2004 gingen die Teilnehmerzahlen bei den Montagsdemonstrationen zurück, bald waren sie verschwunden. Was waren die Gründe dafür?

Für mich war der Höhepunkt erreicht, als wir mit der Montagsdemo am 13. September vor dem Haus der Wirtschaft standen, da, wo die Arbeitgeberverbände drinsaßen. Da stritten sich die MLPD und die gegnerische Seite der Organisatoren über ihre Lautsprecher. Da habe ich mich gefragt: Sind wir Erwerbslosen nur noch die Statisten? Werden wir hier nur instrumentalisiert?

Hatten Sie vor 20 Jahren die Hoffnung, dass durch die Proteste Hartz IV doch noch verhindert werden könnte?

Natürlich. Wenn ich nicht irgendwo Hoffnung gehabt hätte, wäre ich wohl nicht aktiv geworden.

Nach dem Ende der Proteste haben Sie das „Erwerbslosenfrühstück“ in Neukölln organisiert.

Ja, ursprünglich wollten wir ein Erwerbslosenzentrum gründen. Dafür hatten wir extra einen Verein aus dem Boden gestampft. Das klappte aber leider nicht. Stattdessen initiierte ich mit jemandem im Mai 2004 das Erwerbslosenfrühstück. Zuerst war das auch gut besucht. Ein kostengünstiges Frühstück auf Spendenbasis war gerne gesehen und lief jahrelang. Aber es entwickelte sich immer mehr eine Konsumentenhaltung. Die Leute haben gemeckert, aber eine Selbstorganisation mit politischem Anspruch entstand nicht. Ich selbst habe mich dann irgendwann aus dem Projekt zurückgezogen.

Zuletzt waren Sie bei den Teuerungsprotesten gegen die hohe Inflation aktiv. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?

Nach Beginn des Ukraine-Krieges und der Inflation luden wir im April 2022 zu einem Gesprächskreis zur sozialen Frage ein. Unser Motto lautete: „Die Lebenshaltungskosten explodieren, und wir explodieren auch gerade.“ Im September liefen dann in Berlin die ersten Proteste gegen die Preissteigerungen an. Danach wurde der Schwerpunkt der Kiezgruppe das Chaos beim Sozialticket. Dabei konnten kleine Erfolge erreicht werden. Wir besuchten unter anderem die BVG-Zahlstelle, wo Strafen für das Fahren ohne Ticket gezahlt werden sollen. Schließlich entwarfen wir Plakate und Flyer zur Bürgergeldhetze. Wir unterstützen uns auch gegenseitig, bei Stress mit dem Amt, dem Vermieter oder Chef.

„Wer soll denn heute die Betroffenen mobilisieren? Die SPD ist Teil der Regierungskoalition, deswegen halten die Gewerkschaften weitestgehend still. Und linke Intellektuelle haben das Interesse an dem Thema verloren“

Warum ist es nach den Protesten vor 20 Jahren nicht mehr gelungen, größere Demos zum Thema Arbeitslosigkeit zu organisieren?

Einkommensarme werden massiv diffamiert. Ihnen wird eingeredet, sie seien selbst schuld. Wut wird so bei den Betroffenen in Scham, Apathie und Resignation verwandelt. Sofort nach Einführung von Hartz IV begann ja die Hetze. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) brachte im Sommer 2005 das Papier Vorrang für die Anständigen heraus, in dem Arbeitslose sogar als Parasiten bezeichnet wurden. Ich sehe das so: Im Sozialstaat werden Erwerbslose individualisiert, durch die Armutsbürokratie werden die Betroffenen zu Einzelfällen und Akten degradiert. Die Betroffenen spüren oft Ohnmacht und fühlen sich dabei auch noch allein. All das führt dazu, dass Proteste verhindert werden.

Mit der Einführung des Bürgergeldes wollte der Staat Arbeitslosen künftig auf Augenhöhe begegnen. Davon ist nicht mehr viel übrig. Die Ampel hat wieder Regelsatzkürzungen von bis zu 30 Prozent eingeführt und drei Stunden Fahrtzeit zum Job als „zumutbar“ definiert – eine halbe Stunde länger als zu Zeiten von Hartz IV. Große Proteste, wie vor 20 Jahren gegen Schröder, gibt es aber nicht. Wieso?

Massenproteste müssen doch auch initiiert und organisiert werden! Wer soll das denn gerade übernehmen? Die SPD ist Teil der Regierungskoalition, deswegen halten die Gewerkschaften weitestgehend still. Erwerbslosenorganisationen gibt es kaum noch. Und kritische Intellektuelle und Linkspartei haben offensichtlich das Interesse an dem Thema verloren.

Welche Rahmenbedingungen braucht es, damit Massenproteste überhaupt entstehen?

Die Montagsdemos entstanden, nachdem die Hartz-IV-Fragebögen erstmals verschickt worden waren und die Zeitungen permanent darüber berichteten. Mediale Aufmerksamkeit ist wahrscheinlich nicht schlecht. Aber die Menschen müssen auch Hoffnung haben, dass der Protest erfolgreich sein könnte. An der mangelt es heute, glaube ich. Erwerbslose haben ja auch mit einem mächtigen Gegenwind zu rechnen. Es ist der alte Kampf: Arm gegen Reich.

Wie hat sich Hartz IV auf die damals Arbeitslosen ausgewirkt?

Wer die Chance hatte, ist in Lohnarbeit gegangen. Selbst die „glücklichen Arbeitslosen“ sahen sich dazu gezwungen. Verblieben sind oftmals Alleinerziehende, Menschen mit gesundheitlichen Problemen und Psychiatriebetroffene. Aber auch Menschen mit anderen Problemen, wie Verschuldung, Sucht et cetera. Viele Betroffene sind migrantisch. Die sind froh, dass sie dem Elend ihrer Heimatländer entflohen sind, und haben oftmals ihre eigene Community, wo sie sich unterstützen. Dann gibt es auch einen Großteil schlecht qualifizierter Menschen im Bürgergeldsystem, die haben die Perspektive der Ausbeutung im Niedriglohnsektor. Was mich stört, ist, dass die Leute in den Medien meistens als „Sozialschmarotzer“ oder als Opfer gesehen werden. Sozialverbände und Professoren sprechen ja gerne von den „Schwächsten“. In der Corona-Krise war ich froh, dass Tacheles e. V., der Paritätische Wohlfahrtsverband und Christoph Butterwegge wenigstens als Armutslobby fungiert haben. Von der Linken war schließlich fast nichts zu hören.

Der Druck auf das Bürgergeld kommt vor allem von rechts. Könnten sich dagegen wieder Proteste von Betroffenen entzünden? Oder würden Sie sagen, arme Menschen sind heute überhaupt nicht mehr mobilisierbar?

Wer soll denn heute die Betroffenen mobilisieren? Zudem sind diese mit ihrem Überlebenskampf beschäftigt. Ich hatte auch schon schlechtere Zeiten, da musste ich zur Lebensmittelausgabe gehen. Wer keine soziale Unterstützung und keinen Zuverdienst hat, ist im Arsch. Jeden Tag ein Rechenexempel: Es darf nichts kaputtgehen! Und durch Lohnarbeit kommen viele auch nicht aus ihrer Armut heraus. Viele Einkommensarme leisten individuellen Widerstand, zum Beispiel durch Klagen. Oder es ist ein individuelles Durchwurschteln, sie sammeln Flaschen, gehen zur Tafel, bekommen Unterstützung oder wenden Tricks an. Kollektiv entsteht da kaum was. Es gibt eine einzige unabhängige Erwerbsloseninitiative in Berlin – Basta. Ich gehe zu unserer Kiezgruppe und bei Verdi zum Arbeitskreis „Rentner*innen mit geringem Einkommen“. Vielleicht kommt ja wieder der Moment, wo sich was bewegt. Aktuell geht die Tendenz nach rechts. Wie wichtig die soziale Frage ist, darüber rede ich mir seit Jahren in der linken Szene in Berlin den Mund fusselig. Manchmal komme ich mir vor, als ob meine Platte einen Sprung hat.

Zur Person

Anne Seeck (geboren 1962 in Stralsund) war seit den 1990ern in der Erwerbslosenbewegung aktiv und gründete die Initiative „Die Hängematten“ mit. Der Name ist eine Parodie auf die Behauptung, Arbeitslose würden in der „sozialen Hängematte“ liegen. Sie ist Mitherausgeberin von KlassenLos. Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten (Die Buchmacherei 2023, S. 256, 12 €).