Zwischen BookTok und Feuilleton: Wie heute darüber hinaus Literatur gestritten wird
„Und Sie machen also BookTok?“ Die Frage stellte man mir Backstage bei einem Event des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Sekunden bevor ich auf einem Panel über digitale Literaturvermittlung sitzen sollte. Zwischen Verlags-Schwergewichten stehend, warf sie mich völlig aus der Bahn. Harmlos formuliert – und doch löste sie in meinem Kopf ein kleines Panikorchester aus. Denn ja, ich mache BookTok. Aber ich bin auch Journalistin. Mein erster Roman erscheint bald, bei Rowohlt. Und ich lese hauptsächlich Literatur, wirklich Literatur, auch Klassiker – sogar freiwillig.
Dieses reflexhafte „Aber“ ist mein innerer Feuermelder gegen das Image, das BookTok in manchen Kreisen hat – irgendwo zwischen Kitschmaschine und algorithmischer Erregungsökonomie. Als jonglierte ich zwei Versionen meiner selbst, die nicht so recht zusammenpassen wollen, obwohl sie in meinem Alltag längst koexistieren: die der kulturkritischen Langsamkeit und die der Hochkantvideos, in denen Menschen in 90 Sekunden epische Welten erklären.
BookTok als globales Netzwerk
BookTok ist, wenn man so will, die größte digitale Leseecke von TikTok – ein globales Netzwerk, das laut aktuellen Berichten inzwischen über 200 Milliarden Views weltweit verzeichnet – voller Empfehlungslisten, Mini-Analysen und Memes. Was mich irritiert, ist weniger die Skepsis gegenüber Social Media als die Annahme, die immer noch in manchen Kreisen vorherrscht, man könne sich dort nicht ernsthaft mit Literatur auseinandersetzen.
Auf BookTok kreisen Gespräche – nicht überall, aber öfter, als man es erwartet – um Tonfall, Rhythmus, Perspektive und formale Brüche – und um jene Wirkung, die ein Satz entfaltet, bevor man weiß, weshalb. Ein Beispiel dafür liefert Dostojewski. Seine Weißen Nächte von 1848 wirkten bis vor Kurzem wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Dann las der britische BookToker Jack Edwards ein paar Lieblingsstellen daraus vor – 2,5 Millionen Menschen sahen zu, und wenige Tage später war die mehr als 150 Jahre alte Novelle bei Amazon ausverkauft. So viel zum angeblich literaturfernen TikTok.
Lange Videos funktionieren
Als ich 2023 meinen ersten Roman begann, traf mich eine andere Erkenntnis: wie schön Schreiben ist – und wie einsam. Also griff ich – ganz Gen Z – zu meinem Handy und öffnete TikTok. Doch im deutschsprachigen BookTok sprach kaum jemand über Belletristik oder Klassiker. Also machte ich es selbst: sprach in die Kamera, roh, unvorbereitet, in der Hoffnung, jemanden zu finden, der dasselbe sucht.
Nach den vermeintlichen TikTok-Regeln machte ich dabei alles falsch. Ich war nicht schnell, nicht pointiert, nicht „virale-Sounds-kompatibel“. Ich redete über Bücher, die mich wirklich beschäftigten. Und genau diese langen Videos funktionierten. „Wie man Klassiker richtig liest“ – ein Titel, der Literaturkritiker vermutlich amüsiert – erreichte knapp 250.000 Aufrufe.
Ohne Rankings, ohne Hype. Nur der Versuch, ohne Highbrow-Gestus zu zeigen, wie man sich großen Texten annähert. Ironischerweise zeigt ausgerechnet dieses Video, was viele nicht glauben wollen: Die Generation Z, die man pauschal für unkonzentriert erklärt, sehnt sich nach mehr. Mehr Tiefe, mehr Kontext – nur anders erzählt.
Ich habe über 20.000 Follower
Mein Account wuchs: im ersten Jahr 10.000, inzwischen über 20.000 Follower. Junge Menschen, die diskutieren, widersprechen, sich begeistern. BookTok hat Literaturvermittlung demokratisiert: Jeder kann mitmachen, jede Stimme zählt. Das ist eine Chance – und ja, eine Herausforderung.
Vielfalt entsteht manchmal auf Kosten von Expertise. Die meisten Creator sezieren weniger den Satzbau als die Emotion: Was hat mich emotional erwischt? Warum? Manchmal fehlt dort die Strenge, die professionelle Literaturkritik mitbringt. Gleichzeitig bringt die Offenheit dort eine Energie hervor, die mir im traditionellen Feuilleton manchmal fehlt.
Und dann gibt es klassische Medien, die diese Grenze intelligent überbrücken: Der BR zum Beispiel tut das mit „Literally“: dem ersten öffentlich-rechtlichen BookTok-Kanal. Knut Cordsen und Miriam Fendt verbinden dort journalistische Präzision mit Plattformkompetenz – unabhängig, neugierig, nahbar, ohne in jene „Servicekritik“-Falle zu tappen, die Kulturkritik manchmal so arg glättet. Und selbst Denis Scheck hat längst den Schritt auf TikTok gewagt – ein leiser Hinweis darauf, dass auch alteingesessene Formate sich öffnen können.
Wo Menschen über Bücher sprechen
Was ich mir von Literaturkritik wünsche, ist nicht kompliziert: Ernsthaftigkeit, die das Spielerische nicht scheut. Jemanden, der ein Buch nicht nur empfiehlt, sondern versteht – und erklären kann, warum es etwas mit uns macht. Und einen Raum, in dem Leser nicht unterschätzt werden. Ich glaube, die Zukunft der Literaturkritik wird nicht zwischen analog und digital, zwischen Fernsehen und TikTok entschieden, sondern zwischen Haltungen. Zwischen offen und geschlossen. Zwischen dem Wunsch, Literatur zu ordnen, und der Lust, sie zu teilen.
Wenn ich an die Veröffentlichung meines eigenen Romans denke, hoffe ich nicht auf ein exklusives Urteil, sondern auf ein vielstimmiges: Kritiker, die präzise lesen. Leser, die nachts kommentieren: „Ich kann das Buch nicht weglegen.“ Menschen in Literaturhäusern, die erkennen, dass Social-Media-Vermittlung kein Angriff auf die Ernsthaftigkeit ist, sondern eine Erweiterung der Adressaten.
Vielleicht liegt genau darin der Trost: dass Literatur sich nicht mehr nur an einem einzigen Ort behaupten muss, sondern überall dort entsteht, wo Menschen über Bücher sprechen – in Studios, auf Timelines, in Kommentarspalten, in Wohnzimmern. Lesen bleibt intim, Kritik bleibt öffentlich, und dazwischen gibt es einen Raum, den wir gerade erst ernst nehmen. Und vielleicht reicht es, wenn ich beim nächsten Mal auf die Frage: „Und Sie machen also BookTok?“, einfach antworte: „Ja“ – ohne „aber“.
Eva Pramschüfer, geboren 1997, arbeitet als Journalistin in München, u.a. für die „Süddeutsche Zeitung“ und „Condé Nast“. Ihre Liebe zur Literatur teilt sie auf Social Media mit über 25.000 Followern. Ihr Debütroman „Weißer Sommer“ erscheint im April 2026 bei Rowohlt