Zwei Fremde am Gleis: Klassengrenzen verschwimmen im Gespräch weiterführend Faulheit und Zukunft
Am Bahnsteig begegnen sich zwei Fremde – eine Frau im Zweiteiler und ein Bauarbeiter. In einem kurzen Gespräch über Arbeit, Migration und Zukunft entsteht ein merkwürdiges Einvernehmen
Menschen ohne Kinder sollten nicht in die Politik!
Foto: Rainer Jensen/picture alliance/dpa
Neulich, sehr früh am Morgen, an einem Bahnhof einer kleineren Großstadt. Eine Frau, um die 60, in einem dunkelgrauen Zweiteiler, Rock und Blazer sorgfältig aufeinander abgestimmt, spricht mit einem Mann. Es geht um die bevorstehende Operation ihres Gatten. Ein bestimmter Professor werde sie übernehmen, derselbe, der ihn schon mehrere Male erfolgreich operiert habe. Ein Mediziner von Rang, inzwischen ein Freund der Familie. Die Frau erzählt das nicht, sie zelebriert es. Ihre Hände, der Blick, das Nicken. Man spürt, dass sie gewohnt ist, dass ihre Sätze ohne Widerstand akzeptiert werden.
Der Mann, mit dem sie spricht, hört aufmerksam zu. Er ist ebenfalls um die 60, vielleicht ein paar Jahre jünger, jedenfalls zu alt für das weiße T-Shirt mit Tupac-Schriftzug, über dem eine dunkelblaue Jeansweste hängt. Sein Deutsch klingt kantig. Seine nichtdeutsche Herkunft bleibt unausgesprochen, ist aber sichtbar. Er antwortet, dass es heute kaum gute Ärzte gebe. Die meisten, sagt er, wollten verdienen, nicht heilen. Er sagt dies ohne Empörung.
Die Anzeige kündigt Verspätung an. Die Frau nimmt den Gedanken der raren Fachkräfte auf. Die Jüngeren, sagt sie, wollten kaum noch arbeiten. Alles kreise nur um sich selbst, Partys, Ablenkung, Rausch. Sie spricht leiser, aber fester. Der Mann nickt, er sagt, er arbeite auf dem Bau, dort finde man niemanden mehr. Die Leute wollten den Lohn, nicht die Arbeit.
Ein Moment der Vertrautheit
Dann legt sich für einen Moment eine kurze Stille zwischen beide. Die Frau nutzt sie. Die Lösung sei sicher nicht, alle ins Land zu lassen. Niemand brauche alle. Leistung zuerst, sagt sie. Alles andere sei Luxus. Der Mann stimmt ihr zu. Leute aus Syrien oder der Ukraine seien viele hier, aber arbeiten wollten sie nicht. Die Tür könne nicht offen sein für jeden. Seine Stimme ist jetzt wärmer, nicht lauter. Dann sagt er, überrascht habe ihn das nicht, dass Merkel das damals erlaubt habe.
Menschen ohne Kinder sollten nicht in die Politik. Wer keine Nachkommen habe, denke nicht an die Zukunft. Es dauert einen Augenblick, bis die Frau antwortet. Man sieht in ihrem Gesicht einen kurzen Riss. Dann sagt sie: Ganz genau. Für einen Moment stehen sie da, beide still. Es wirkt wie Vertrautheit, obwohl sie sich gerade erst kennengelernt haben.
Der Zug fährt ein. Die Frau bemerkt, dass sie im falschen Bereich steht. Sie müsse zum ersten Wagen. Der Mann zeigt zu den hinteren Waggons, für die sein Ticket gilt. Vielleicht werden beide sich während der Fahrt an das Gespräch erinnern. Sie mit deutlich mehr Beinfreiheit, er etwas eingeschränkt. Vereint sind sie trotzdem.