Zeitungen sollten keine Wahlempfehlung durchgeben – handkehrum voluntaristisch, nicht hinauf Druck
Zwei renommierte US-Zeitungen verabschieden sich von einer langen Tradition und verzichten darauf, eine Empfehlung für die Präsidentenwahl abzugeben. Die Entscheidung passt zur neuen Medien-Realität. Fragwürdig bleibt, wie sie zustande kam.
Es gibt einen neuen Grund, sein Amazon-Konto aus Protest zu löschen. Diesmal treiben Social-Media-Aktivisten nicht die Arbeitsbedingungen in den Lagern oder das Ladensterben in den Städten um. Es geht vielmehr um den Amazon-Gründer Jeff Bezos. Der ist nebenbei noch Inhaber der Hauptstadtzeitung „Washington Post“ – und hat bei der Redaktion interveniert.
Die wollte eigentlich Kamala Harris zur Wahl empfehlen. Bezos zwingt die Zeitung kurz vor der US-Wahl auf einen neuen Kurs: Es sei an der Zeit, zur alten Tradition der strikten Überparteilichkeit zurückzukehren, schreibt das Blatt nun anstelle einer Wahlempfehlung.
Ganz ähnlich lief es bei der „Los Angeles Times“. Deren Inhaber, der Biotech-Milliardär Patrick Soon-Shiong, stoppte ebenfalls eine Wahlempfehlung für Harris. Er habe stattdessen eine neutrale Pro-und-Contra-Liste lesen wollen, womit wiederum die Redaktion nicht einverstanden gewesen sei, teilte er seinen Kritikern mit.
Seine Tochter, die 31-jährige progressive Aktivistin Nika Soon-Shiong erklärte allerdings, sie habe die Entscheidung mitbeeinflusst – aus Protest gegen den Israel-freundlichen Kurs von Harris.
Bei beiden Publikationen brennt der Newsroom: Abonnenten kündigen, offene Briefe der Belegschaft und von Gewerkschaftlern kursieren. Dabei ist die Entscheidung, auf die sogenannten „Endorsements“ zu verzichten, grundsätzlich richtig – nur nicht die Beweggründe und das Vorgehen.
Wahlempfehlungen einer ganzen Redaktion sind in Deutschland undenkbar – fast jedenfalls: Die wirtschaftlich erfolglose „Financial Times Deutschland“ hat es damit bis zu ihrem Ende vor zwölf Jahren versucht. Folgen wollte ihr niemand.
Heute ist die Medienlandschaft einerseits vielfältiger: Podcaster, Influencer und Politiker kommunizieren direkt mit dem Publikum – und das kann antworten. Dass solche meinungsstarken Figuren Wahlempfehlungen abgeben, ist sinnvoll.
Die Rolle der großen Redaktionen ist dagegen eine andere geworden: Sie müssen über tiefe Recherche und sinngebende Erklärung die freie Meinungsbildung ermöglichen. Da passen konkrete Wahlempfehlungen nicht mehr ins Bild.
„Washington Post“ und „LA Times“ handeln also eigentlich richtig. Doch wie es dazu gekommen ist, schadet den Redaktionen. Der neue Kurs hätte lange vor der Wahl eingeschlagen werden müssen – im Dialog zwischen Redaktion, Lesern und Eigentümern. So bleibt der Verdacht, die Eigentümer hätten aus tagespolitischem Opportunismus entschieden.
Besonders im Fall der „LA Times“: Die Zeitung empfiehlt ihren Lesern nämlich weiterhin, wie sie sich Anfang November zu den zehn Volksentscheiden, den Wahlen zum Stadt- und Landrat, zu den Schulausschüssen, dem Staatsgericht und zum Senat verhalten sollen. Nur zur Frage der Präsidentschaft präsentiert die Redaktion nun keine eigene Empfehlung mehr. Glaubwürdig ist das nicht.
Source: welt.de