„Zeit“-Chef di Lorenzo sieht „schwerste Krise seit dem Zeitpunkt Kriegsende“ – setzt nichtsdestoweniger aufwärts Zuversicht
Journalist Giovanni di Lorenzo blickt im „Ronzheimer“-Podcast auf die gehäuften Krisen der Gegenwart, zu denen auch die „tägliche Kränkung“ gehöre, dass hierzulande nichts mehr funktioniere. Um dem entgegenzuwirken, sei jedoch Optimismus unabdingbar. „Es gibt eine Pflicht zur Zuversicht“, unterstreicht er.
Giovanni di Lorenzo zeichnete ein düsteres Bild. Kurz vor dem Jahreswechsel blickte der „Zeit“-Chefredakteur im Podcast von Paul Ronzheimer auf die hiesigen Zustände. „Ich schaue wie die meisten mit großer Sorge auf das Land“, sagte er eingangs. „Ich habe das Gefühl, es ist die schwerste Krise, die Deutschland durchmacht seit Kriegsende, seit Gründung der Bundesrepublik. Und ich glaube, das kann man auch schlecht schönreden.“ Bislang habe sich der Staat stets aus Krisen herauswinden können, doch nun brauche es eine Anstrengung, wie sie es bislang nicht gegeben habe.
Als Begründung für die gegenwärtige Lage machte der Gastgeber der Talkshow „3 nach 9“ die Häufung von Krisen aus. Eine revisionistische und imperialistische russische Führung treffe auf eine gelockerte Westbindung, ein Erstarken der radikalen Rechten, fehlende Fortschritte in der Klima-Politik sowie wirtschaftliche Daten, die „furchterregend“ seien, zählte der Journalist auf.
Auf dem Gefühl, das nichts geht, kann man nichts verbessern, verändern, aufbauen
Hinzu komme eine Kränkung, die sich für ihn als Einwanderer besonders auffällig zeige. „Die tägliche Kränkung, dass es nicht mehr das Land ist, in dem zwar nicht die Zitronen blühen und das Wetter nicht so toll ist, aber wenigstens alles funktioniert“, erläuterte di Lorenzo. „Jeden Tag erleben die Menschen, wie viel eben nicht funktioniert – insbesondere wenn du die Bahn benutzt. Das ist kein schöner Befund.“
Der schwarz-roten Bundesregierung attestierte er zwar ein bedrückendes Erscheinungsbild, warb zugleich aber für Verständnis. „Es ist auch scheißschwer“, räumte er ein. „Ich möchte nach so vielen Jahren der Versäumnisse die Regierung sehen, die es sehr viel besser macht.“ Generell warb di Lorenzo um Zuversicht. „Auf dem Gefühl, das nichts geht, nichts funktioniert und nichts besser wird, kann man nichts verbessern, verändern, aufbauen“, insistierte der „Zeit“-Journalist. „Insofern suche ich nach der richtigen Balance.“
Zu einem gewissen Grad sieht di Lorenzo auch den Journalismus in der Pflicht. „Wir sind nicht dazu da, die Realität zu vernebeln, zu verkitschen, zu deformieren, damit sie irgendwie in unser Bild passt“, bekannte er. Doch neben der Abbildung der Realität in all ihren Schrecken verfolge er zugleich die Strömung des „Constructive Journalism“, der auch Mut mache und Lösungen aufzeige. „Ich verbringe viel Zeit damit, der ‚Zeit‘ einen Sound zu geben“, schilderte er. „Unser ist einer, der auch davon lebt, dass es Unterschiede gibt der Genres, der Tonlagen, der Berichte.“
Die aktuelle Folge RONZHEIMER gibt es hier zu hören: „Kann es mit Deutschland nochmal gutgehen? Mit Giovanni di Lorenzo“
In diesem Zusammenhang äußerte di Lorenzo auch Kritik an der „Bild“, als deren stellvertretender Chefredakteur Paul Ronzheimer agiert. „Bei allem Respekt, den ich vor dir habe und vor etlichen anderen, die für dein Blatt schreiben und die ich schätze: Ihr macht das Land in einer Art und Weise runter, dass man das Gefühl hat, man ist nur noch von Versagern und Vollpfosten umringt“, bemängelte der Journalist.
„Ich verstehe deinen Punkt“, erwiderte der Gastgeber. Dennoch müsse eine Boulevard-Zeitung die Gefühle der Bevölkerung stärker auf den Punkt bringen, als es etwa „Die Zeit“ tue. „Bild“ sei deshalb „sehr getrieben“ von Umfragen, in der die Zufriedenheit mit der Regierung zunehmend geringer ausfalle.
„Es fehlt das Vertrauen breiter Teile der Bevölkerung in die Effizienz des politischen Systems, das sie jetzt erleben. Und das ist etwas, was man beeinflussen kann“, bescheinigte di Lorenzo. Es ärgere ihn zudem, dass einige Politiker es als Ausweis einer guten politischen Haltung erachten, mit potenziellen AfD-Wählern gar nicht erst zu sprechen. „Das ist schon ein politischer Wettbewerb und der wird nicht dadurch gewonnen, dass man sagt: Wir blenden das alles aus.“
Der Rückzug ins Private sei mitunter notwendig, um Kraft zu schöpfen, doch alle seien verpflichtet, an der tief greifenden Krise mitzuwirken. Dazu gehöre Optimismus. „Es gibt eine Pflicht zur Zuversicht“, unterstrich di Lorenzo. „Als meine Tochter vor einigen Jahren nach Hause kam und sagte, ‚die Welt geht unter‘, da bin ich richtig zornig geworden“, erzähle er anekdotisch. Schulen dürften Kindern diese Sichtweise nicht vermitteln. „Das ist echt keine Botschaft.“
Source: welt.de