Zahl dieser Wohnungslosen erneut gestiegen
Die Zahl der Wohnungslosen hat ein Rekordstand erreicht: Mehr als eine Million Männer, Frauen und Kinder sind ohne festes Mietverhältnis. Hilfsprojekte sehen mehr Arbeit auf sich zukommen.
„Ein Bauernhof, das wäre was. Selber bewirtschaften, so mit ein paar Hühnern.“ Tobias, 56, der seinen richtigen Namen nicht nennen möchte, kommt ins Träumen und blickt raus auf den wildbewachsenen Hang vor seinem Zimmerfenster. „Aber eine Wohnung? Wozu? Ohne Familie, ohne Kinder, ohne Menschen, die ich einlade? Über eine Wohnung bin ich hinweg.“
Sein Lebensmodell endete abrupt am 2. Januar. „Ich hatte einen Schwächeeinbruch“, erzählt er. „Krankenwagen. Uniklinik. Ich hatte ja noch die offene Wunde an der Hüfte.“ Seit der Entlassung aus dem Krankenhaus lebt er in einem der drei sogenannten Genesungszimmer des Mainzer Vereins „Armut und Gesundheit“.
„Armut macht krank. Und Krankheit macht arm.“
Hier können Menschen ohne Wohnung und Krankenversicherung betreut und in Ruhe gesund werden, wenn es Fallpauschalen und Krankenhauskosten nicht mehr zulassen. „Die in der Uniklinik gaben mir den Tipp“, sagt Tobias. Der Nachbar in Zimmer eins hatte eine Gallenblase-OP, der in Zimmer drei einen komplizierten Sprunggelenksbruch.
„Wenn es diese Zimmer nicht geben würde“, erklärt Marius Schäfer und macht eine kurze Pause, „dann würden diese Menschen früher sterben.“ Schäfer ist Teamleiter der Mainzer „Genesungszimmer“ und sieht, wie steigende Lebenshaltungskosten einerseits und schwindende Leistungen im Sozial- und Gesundheitssystem andererseits zuerst wohnungslosen Menschen zusetzten: „Armut macht krank. Und Krankheit macht arm.“
Die Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen wird immer größer. Das geht aus der aktuellen Hochrechnung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) hervor: 2024 waren demnach 1.029.000 Menschen in Deutschland wohnungslos, also ohne festes Mietverhältnis, vielleicht nur geduldet bei Freunden, Familie oder in einer Notunterkunft, die sie am Tag nicht verlassen müssen.
Das ist ein Anstieg im Vergleich zum Vorjahr von elf Prozent. Unter ihnen seien mehr als eine Viertelmillion Kinder und Jugendliche. 56.000 Menschen lebten ganz ohne Dach über dem Kopf, auf der Straße.
Ein Ende des Trends nicht in Sicht
Die Arbeitsgemeinschaft spricht von einer „besorgniserregenden Zunahme der Wohnungslosigkeit“. Ein Ende des Trends sei nicht in Sicht. „Die Ursachen sind bekannt: zu wenig bezahlbarer Wohnraum, Armut und drohende Kürzungen im sozialen Sicherungssystem“, erklärt Susanne Hahmann, Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft. Besonders problematisch sei der Rückgang an Sozialwohnungen. Zu den häufigsten Auslösern von Wohnungslosigkeit in Deutschland zählen laut BAGW Miet- und Energieschulden, Konflikte im Wohnumfeld, Trennung oder Scheidung.
„Obdachlosigkeit geht oftmals ein Trauma voraus, das Leben auf der Straße führt zu weiteren Traumata“, erzählt Schäfer aus seinen Erfahrungen mit den Patienten. Da seien die Angst um das wenige Hab und Gut, während in dunklen Ecken der Stadt geschlafen werde; herabwürdigende Blicke der Passanten oder gar Gewalterfahrungen. Die Seele werde verletzt.
Oftmals liegen auch psychische Erkrankungen vor
„Bei Wohnungslosigkeit liegt auch immer ein sehr, sehr hoher Anteil von psychiatrischer Erkrankung vor. Insbesondere männliche Patienten, die nie heiraten, die vielleicht eine Schizophrenie haben, durch ihre Art nie so richtig eine Anbindung finden und durchs gesellschaftliche Raster rutschen, leben oft in der Obdachlosigkeit“, schildert Psychiaterin Sezer Lammers ihre Erfahrungen.
Sie ist Chefärztin der psychiatrischen Fachklinik im rheinland-pfälzischen Wissen und hatte irgendwann genug davon, dass Sozialsysteme obdachlosen Patienten nur unzulänglich helfen, sie zu „Systemsprengern“ werden ließen.
Beispielhaft schildert sie den Fall eines Obdachlosen: Die Gemeinde stellt eine Unterkunft. Aufgrund seiner psychischen Erkrankung überfordert ihn das Führen des Haushalts. Halluzinationen, Wahn, Realitätsverlust. „Dann fühlt er sich durch Ordnungsamtsbeamte oder andere, die ihn ansprechen, bedrängt, wird selbst- und fremdgefährdend. In diesem Fall war es so: Weil ihm kalt war, machte er im Zimmer ein kleines Feuer.“
Es folge Verlust der Wohnung, dann die Einweisung in die Psychiatrie, schildert Lammers: „Aber wir sind ein Akutkrankenhaus. Wir können hier die Menschen nicht ‚aufbewahren‘. An dem Punkt, an dem wir eine akute Gefährdung ausschließen, geht der Patient zurück in eine Notunterkunft. Und dann geht’s wieder von vorne los.“
Den „Teufelskreis im System“ durchbrechen
Um diesen „Teufelskreis im System“ zu durchbrechen, initiierte Lammers das Projekt „Systemsprenger“: Bei der Entlassung wird für jeden kritischen Patienten ein „Runder Tisch“ einberufen. Lammers als Chefärztin, eine Psychiatriekoordinatorin, die Wohnungslosenhilfe und das Ordnungsamt stimmen einen Betreuungsplan ab – alles auf einem kurzen Dienstweg. Das Projekt erhielt kürzlich den Sozialpreis der katholischen Krankenhäuser.
Zehn Patienten im Jahr profitieren von dem Projekt. Es müssen mehr werden: Die Reform des Bürgergelds sieht Kürzungen der Leistungen einschließlich der Mietzahlungen vor. „Die geplanten Sanktionen stellen die Würde der betroffenen Menschen in Frage und riskieren, dass sie ihr Zuhause verlieren. Das ist sozialpolitisch unverantwortlich“, warnt Sabine Bösing.
Im „Genesungszimmer“ des Mainzer Vereins „Armut und Gesundheit“ können kranke Wohnungslose wieder zu Kräften kommen.
„Alles, was zu einer Verschlechterung der Lebenssituation führt, mündet letztendlich in eine seelische Belastung“, gibt Lammers zu bedenken. So sieht es auch Marius Schäfer vom „Genesungszimmer“ in Mainz: „Wenn Politik und Gesellschaft nicht entschieden gegensteuern, werden noch mehr Menschen ihr Zuhause verlieren.“
Wie lange Tobias noch im „Genesungszimmer“ bleiben wird, weiß er nicht: „Ich brauche erst wieder Stabilität in meinem Körper, ich habe ihn noch nicht im Griff, es fehlt noch der Biss.“ Für das Engagement des Teams, bestehend aus zwei Sozialarbeitern und zwei Pflegekräften, sei er dankbar. Dass das Angebot, in Würde von einer schweren Krankheit zu genesen, nur dank Spenden möglich ist, das Sozialsystem es eigentlich nicht vorsieht, findet er enttäuschend: „Es ist eine Frage, wie man miteinander umgeht.“
Source: tagesschau.de
