Wulf Segebrecht 90: Fürsorglicher Eingriff in die Kunstwerkseligkeit

„Warum sollen Kritiker es nicht schwer haben? Dazu sind sie da.“ Wulf Segebrecht hat diesen Satz Hermann Hesses vor vielen Jahren zitiert, in einer der ersten Rezensionen, die er für das Literaturblatt der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verfasste, und er hat sich bis heute, fast sechzig Jahre danach, daran gehalten. Allerdings ist er niemand, der seinen Lesern auf die Nase binden würde, wie viel Mühe er sich wieder einmal gemacht hat. Segebrechts Texte sind schlackenlos, alle Spuren der Anstrengungen, die sie ihrem Verfasser abverlangt haben mögen, sind aus ihnen getilgt. Wenn Segebrecht über Literatur schreibt, arbeitet höchste Textsensibilität Hand in Hand mit schönster Selbstverständlichkeit ihres Ausdrucks.
Neben das anhaltende Interesse am Neuen tritt die seltene Fähigkeit, neue Perspektiven auf Altbekanntes zu entwickeln. Einer Debütantin bescheinigt er, sie sei nachdenklich, agil, vielseitig interessiert, sprachgewandt, kritisch und selbstkritisch. Aber beim Blick auf Art und Vielzahl der Themen ihres ersten Lyrikbandes drängt sich ihm ein Gedanke auf, der das Lob schlagartig in Zweifel zieht: „Das alles kann, ohne Frage, auch Platz haben im Gedicht. Aber täte es nicht eine Glosse, eine Sozialreportage, ein Feuilleton, ein politisches Statement in vielen Fällen auch?“
Zwei Gedichten von Schiller und Goethe, die beide ungemein bekannt sind, aber ansonsten unterschiedlicher kaum sein könnten, hat er je eigene Monographien gewidmet: „Was Schillers Glocke geschlagen hat“ wurde in dieser Zeitung 2005 in täglich erscheinenden Fortsetzungen vorabgedruckt, gefolgt von „Goethes Nachtlied ,Über allen Gipfeln ist Ruh‘ – Ein Gedicht und seine Folgen“ im Jahr 2022. Über beide Bücher ließe sich sagen, was Reinhold Grimm über die Studien zum Werk von E. T. A. Hoffmann schrieb, mit denen Segebrecht 1964 bei Müller-Seidel in München promoviert wurde: dass sie Türen und Zugänge nutzten, die zwar zuvor schon offen gestanden haben mögen, aber keine Beachtung fanden.
Segebrecht ist kein Verfechter der Tradition um ihrer selbst willen. Als er im Jahr 2000 unter dem auch willentlich als autoritär missverstandenen Titel „Was Germanisten lesen sollen“ eine Lektüreliste veröffentlicht, gibt er ihr den Untertitel „Ein Vorschlag“. Er zählt nicht auf, was man als Germanist „kennen muss“, sondern gibt eine Handreichung zur systematischen Beschäftigung mit dem, was die Beschäftigung lohnt. Wer eine solche Liste von Titeln für profan hält, verkennt, wie tief der Respekt ist, den ihr Verfasser den erwähnten Werken entgegenbringt. In Segebrechts Besprechung von Mörikes Gedicht „Auf eine Lampe“ für die Frankfurter Anthologie zeigt sich dieser Respekt in einer programmatischen Äußerung: „Die Bedingung jeder Interpretation ist der Eingriff in die Seligkeit des Kunstwerks.“
Ein ebenso schönes, aber noch knapperes Beispiel für einen fruchtbaren Umgang mit der literarischen Tradition gibt Segebrecht in seinem Beitrag für die 2004 erschienene Feuilletonserie „Mein Lieblingsbuch“. Am Beispiel Achim von Arnims und Clemens von Brentanos, der Herausgeber der Anthologie „Des Knaben Wunderhorn“, macht er deutlich, was er unter produktiver Rezeption versteht: „Das Weiterreichen von Texten bezeigt die Lebendigkeit der dargebotenen Texte und ihrer Überlieferer für den lebendigen Leser.“ Was aber ist unter einem lebendigen Leser zu verstehen? Einer, der „die sorgfältige Hinwendung zum Text mit der erfindsamen Kultivierung der eigenen Phantasie“ zu verbinden weiß. Wulf Segebrecht ist solch ein Leser. Am heutigen Dienstag wird er neunzig Jahre alt.
Source: faz.net