Wirtschaftswissenschaftler Marc Chesney: „Meine Kollegen sind zu oft Söldner des Kasino-Kapitalismus“

Mit „grünem Wachstum“ wird alles gut – diese Mär von guten Märkten entlarvt Marc Chesney in seinem Buch Stopp. Gegen Kasino-Finanzwirtschaft und die Vermarktung der Natur. Der Züricher Professor beschreibt viele seiner Kollegen als „White-Collar-Söldner“ der Finanzkasinowirtschaft. Beliebt macht sich Chesney mit solchen Angriffen nicht. Doch wer sind die Profiteure dieses Systems, das die Welt in den Abgrund reißt? Ein Gespräch über das Gespenst des Finanzmarktkapitalismus.

der Freitag: Herr Chesney, der Dax stürzt gerade mal wieder ab. Wertpapiere wie Nestlé oder Microsoft gelten als „Aktien für die Ewigkeit“. Welche Geldanlage würden Sie empfehlen?

Marc Chesney: Ich kenne keine Aktien, die „für die Ewigkeit“ sind, und Aktien zu empfehlen, ist nicht meine Rolle.

Warum nicht? Sie leben doch im Bankenparadies Schweiz …

Ich arbeite nicht für eine Bank, und ich habe kein Vertrauen in die Finanzmärkte. Sie sind in Wirklichkeit der Spieltisch der Finanzkasinowirtschaft und werden von Hedgefonds, Großbanken und sogar Zentralbanken massiv manipuliert, um die Konzentration des Reichtums in wenigen Händen zu beschleunigen.

Während 45 Prozent der Welt mit weniger als sieben Dollar pro Tag überleben, ist Jeff Bezos am 20. Juli 2020 um 13 Milliarden Dollar reicher geworden – an einem Tag!

Steht es wirklich so schlimm?

Schlimmer. Für alle lebenswichtigen Bereiche blinken die Warnleuchten rot: Klimawandel, Verlust der Artenvielfalt, Umweltverschmutzung im großen Stil, unerträgliche soziale Ungerechtigkeiten, ständige Kriege und die Gefahr eines Weltkriegs. Das System wird von einer Oligarchie gesteuert, die es sich in ihren klimatisierten Luxusvillen, in ihren Superjachten, Privatjets und zur Not in eigenen Atombunkern bequem macht und von dort aus, je nach eigener Interessenlage, Entscheidungen trifft, die Folgen für alle haben. Für die, die unter den Hitzewellen ächzen, die verhungern oder in den von der Oligarchie verursachten Kriegen sterben, die an Armut und an durch Entwaldung und Verlust von Artenvielfalt ausgelösten Pandemien leiden. Für normale Menschen ist dieses System ein regelrechtes Geschwür.

Wen meinen Sie konkret?

Jeff Bezos zum Beispiel gehört zu der kleinen Kaste der Milliardäre und Profiteure des Systems. Während circa 45 Prozent der weltweiten Bevölkerung mit weniger als sieben Dollar pro Tag überleben, ist er am 20. Juli 2020 um 13 Milliarden Dollar reicher geworden – an nur einem einzigen Tag! Es handelt sich ungefähr um das Doppelte des tagesbezogenen Bruttoinlandsprodukts des afrikanischen Kontinents, das heißt, um das Zweifache des Warenwertes, den dieser Kontinent mit seinen 1,3 Milliarden Menschen an einem einzigen Tag erwirtschaftet. Die reiche Kaste heute will alles, und das sofort. Das hat riesige Auswirkungen: Armut, die mittlere Klasse ist unter Druck, die benachteiligten Klassen versuchen zu überleben.

Den Superreichen sagen Sie „Stopp“? So heißt ja Ihr Buch.

Wenn man in einer Sackgasse ist, muss man anhalten, um eine andere Richtung zu suchen. Aber die meisten Politiker tun das Gegenteil, sie beschleunigen. Mehr, mehr, mehr. Mehr Krieg, mehr Wachstum, mehr Finanzmärkte. Sie wollen die Finanzmärkte befriedigen, aber dafür sind sie nicht gewählt. Sie sind gewählt, um die Bevölkerung zu befriedigen. In Frankreich entscheidet König Macron, dass fünf Prozent des Budgets für die „Verteidigung“ draufgehen, um Wachstum zu fördern.

Es gibt die, die durch ihren Drang nach Profit den Klimawandel und den Verlust der Artenvielfalt beschleunigen, die Kriege pushen, die aber nie selbst in den Krieg ziehen. Sie führen nur die anderen zum Sterben

Was ist mit grünem Wachstum?

Das ist ein Mythos.

Aber wäre es nicht besser, in grüne Energie zu investieren?

Es reicht nicht. Um dieses sogenannte grüne Wachstum zu fördern, empfehlen traditionelle Ökonomen-Kollegen die Schaffung neuer Märkte. In der EU gibt es schon einen Markt für Emissionsrechte – er bringt nichts. Unternehmen können sich freikaufen und den Klimawandel weiter beschleunigen. Das ist Ablasshandel. Nach dem gleichen Prinzip entstehen jetzt Märkte für Rechte auf die Zerstörung von Biodiversitätsparzellen. Wenn ein Unternehmen ein Ökosystem samt allen darin lebenden Tierbeständen vernichtet, muss es auf Handelsplattformen die entsprechenden Zertifikate dafür erwerben. Das ist kein Schutz der Natur, sondern deren zynischer Ausverkauf. Die Wildtierbestände sind in den vergangenen 50 Jahren um 70 Prozent geschrumpft, Insekten sterben. Ich hoffe, Sie werden jetzt nicht pessimistisch …

Doch, schon ein bisschen. An wen richtet sich Ihr Buch denn?

Ich richte mich an alle, die einfach leben wollen. Die Frage ist sehr klar: Wollen wir Leben oder Kriege fördern? Im Moment fördert die Oligarchie Kriege und Zerstörung. Es handelt sich nicht nur um die Interessen der meisten, sondern auch um die derjenigen, die noch gar nicht existieren. Die zukünftigen Generationen haben auch das Recht, einfach saubere Luft zu atmen und reines Wasser zu trinken – damit sie leben können.

Das sind dann alle.

Jaja, aber es gibt die, die durch ihren Drang nach Profit den Klimawandel und den Verlust der Artenvielfalt beschleunigen, die Kriege pushen, die aber nie in den Krieg ziehen. Sie führen nur die anderen zum Sterben.

Ich sehe in meinem Bereich, Ökonomie und Finanzen, dass die Studierenden nicht lernen, kritisch zu denken. Die meisten Professoren unterrichten die Ideologie der freien Märkte

Machen Sie keine Unterschiede zwischen den Ländern, zwischen den Politikern, zwischen politischen Systemen? Macht Demokratie keinen Unterschied?

Was die Zerstörung der Lebensgrundlagen betrifft, keinen allzu großen. Das NATO-Bündnis unter der Führung der USA und die Gruppe von Ländern um China und Russland sind beide gefährlich. Die Atombomben der USA sind nicht beruhigender als diejenigen von Russland.

Sie sehen eine Oligarchie am Werk, die „eine geplante und unterrichtete Verdummung“ bezwecke, als „notwendige Bedingung für ihr eigenes Wachstum“. Das Bildungssystem beschreiben Sie als eines, bei dem „die Erziehung zum kritikfähigen Bürger eindeutig nicht auf der Tagesordnung“ stehe. Das sind sehr pauschale Urteile, oder?

Es handelt sich nicht um „pauschale Urteile“. Seit vielen Jahren entwickle ich eine kritische Analyse der Finanzkasinowirtschaft, der Vermarktung der Natur und der Anbiederung der wirtschaftswissenschaftlichen Milieus an die Macht des Geldes. Ich sehe in meinem Bereich, Ökonomie und Finanzen, dass die Studierenden nicht lernen, kritisch zu denken. Die meisten Professoren unterrichten die Ideologie der freien Märkte. Diejenigen, die in der Schweiz, in Deutschland, weltweit extra Geld von Finanzinstitutionen erhalten, haben Anreize, „business as usual“ zu machen und zu schweigen, wenn Themen heikel sind. Es gibt dazu Untersuchungen, eine wurde im September 2024 bei Republik veröffentlicht. In Deutschland ist es zu oft tabu, die Deutsche Bank zu kritisieren. Im Prinzip ist ein Uni-Professor in Europa vom Steuerzahler finanziert und wird gut bezahlt. Doch statt unabhängig die Lage zu analysieren, um die Interessen des Gemeinwohls zu fördern, machen sie sich zu oft zu White-Collar-Söldnern. Es ist eine Schande.

Die Geschichte zeigt, dass jedes System drei Phasen hat: Wachstum, Stabilisierung, Niedergang. Warum sollte der Kapitalismus eine Ausnahme sein?

Sie sprechen von „Machthabern“, deren Programm es sei, „das Überflüssige und das ‚Ungeziefer‘, das ‚Lumpengesindel‘ loszuwerden, wie sie es auch mit Insekten tun“. Das ist ziemlich starker Tobak. Wie begegnen Sie dem Vorwurf, Verschwörungstheorien zu verbreiten?

Über die Wortwahl lässt sich natürlich streiten, aber was ich sage, basiert auf Fakten.

Ihr Rundumschlag richtet sich „gegen Kasino-Finanzwirtschaft und die Vermarktung der Natur“. Was haben Sie gegen Kasinos?

Ich habe im Prinzip gar nichts gegen Kasinos – solange die Spieler das Risiko selbst tragen und ihre Verluste selbst bezahlen. Für Großbanken und deren Geschäfte gilt das aber nicht. Wenn es gut geht, werden Gewinne privatisiert, wenn es schiefgeht, zahlt der Steuerzahler. Das ist nicht Liberalismus, das ist Diebstahl. Von den weltweit rund 30.000 Banken sind circa 30 international „too big to fail“. Denen geht es zu oft nicht um Investitionen, sondern um Einsätze. Sie wetten auf Ausfälle oder Bankrotte – von Unternehmen oder Ländern. Großbanken spielen Poker mit dem Geld des Steuerzahlers. Auch mit dem Krieg machen sie Geld. Krieg ist ein Business. Blut bedeutet Dollars, und Zerstörung erzeugt Rendite.

Der Finanzmarktkapitalismus steht vor dem Abgrund, meinen Sie. Sind Sie sich da sicher?

Die Geschichte zeigt, dass jedes System drei Phasen hat: Wachstum, Stabilisierung, Niedergang. Warum sollte der Kapitalismus eine Ausnahme sein? Aber wir müssen uns nicht mit in den Abgrund reißen lassen. Wir könnten ein neues System entwickeln, das nicht auf Profitstreben basiert.

Superreiche sind aggressiv, sie kontrollieren auch die meisten Medien

Sie meinen Suffizienzwirtschaft?

Genau. Davon lernen die Studierenden nichts in der Wirtschaftswissenschaft. Dort heißt es nur, „immer mehr“ bedeute „immer besser“. Das ist Bulimie, es ist dumm und krank.

Der freie Markt regelt also gar nichts in Ihren Augen?

Freie Märkte existieren nur in der Theorie.

Sie vergleichen den Finanzmarktkapitalismus der Milliardäre mit dem Ancien Régime vor der Revolution in Frankreich. Wir Bürger, schreiben Sie, müssten ihnen ihre lächerlichen Luxusspielzeuge, ihre Privatjets einfach wegnehmen. Das will ich gern tun, aber wie?

Eine Person kann das nicht machen, nur soziale Bewegungen, Streiks, Demonstrationen. Im 20. Jahrhundert gab es eine Bewegung mit Jean Jaurès. Er wurde getötet, weil er keinen Krieg wollte. In Deutschland wurde Rosa Luxemburg ermordet. Schauen Sie sich heute die verbale Gewalt an, mit der Superreiche reagieren, wenn die Idee aufkommt, dass sie auch nur zwei Prozent Vermögenssteuer zahlen sollten. Deren Vermögen steigt um acht bis zehn Prozent jährlich. Diese Leute sind aggressiv, sie kontrollieren auch die meisten Medien.

Haben Sie dennoch Hoffnung?

Ja, es gibt Lösungen! Wir haben in Europa die Chance, uns zu äußern. Schweigen ist hochgefährlich. Wir dürfen nicht passiv bleiben.

Marc Chesney (geboren 1959) ist ein Schweizer Ökonom und war bis 2024 Professor für Finanzmathematik an der Universität Zürich. 1989 wurde er in Finanzwirtschaft promoviert, 1994 habilitierte er sich an der Sorbonne. In seiner schonungslosen Kritik des „Raubtierkapitalismus“ ähnelt er seinem Landsmann Jean Ziegler. Stopp erschien im September im Westend Verlag (160 S., 20 €).