Wirtschaftswissenschaften | „Digitaler Kolonialismus“: Manifest zum Besten von antiimperialistische Verantwortung
Im Buch „Digitaler Kolonialismus“ belegen Ingo Dachwitz und Sven Hilbig die Ausbeutung durch Tech-Konzerne und Großmächte. Die Autoren schließen eine riesige Lücke in der öffentlichen Wahrnehmung und zeigen sich durchaus parteiisch
Die Digitalisierung gehört in den Dienst globaler Gerechtigkeit gestellt
Foto: John W. Banaga
Technologie im Allgemeinen und die digitale Ökonomie im Besonderen sind dem öffentlichen Bewusstsein in ihrer Bedeutung vage bekannt. Die gesellschaftliche Diskussion darüber beschränkt sich zumeist auf den Austausch einzelner, meist völlig beliebig und inhaltsleer verwendeter Schlagworte. Sachbücher zum Thema orientieren sich gerne an den jeweils gut verkäuflichen Hypes, tragen aber selten zur Qualifizierung der Debatte bei oder fallen in die Kategorie schwer zugängliche Fachliteratur. Eine aktuelle Ausnahme ist der Band Digitaler Kolonialismus von Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Auf 300 Seiten gelingt es den Autoren, technische Herausforderungen, ökonomische Zwänge, geopolitische und kommerzielle Interessen aus der digitalen Sphäre nachvollziehbar zu beschreiben. Nachvollziehbar heißt in diesem Falle, dass die angebotenen Darstellungen und Interpretationen auch für Leser:innen ohne vertieftes Vorwissen verständlich sind.
Kosten der digitalen Landnahme aus dem globalen Norden und China
Dachwitz, der als Mitarbeiter des wichtigsten deutschsprachigen Portals für alle Fragen der digitalen Gesellschaft, netzpolitik.org, bekannt ist, und Hilbig als Experte für Digital- und Handelspolitik bei Brot für die Welt nutzen ihre jahrelange Expertise, um eine riesige Lücke in der öffentlichen Wahrnehmung zu schließen. Nämlich die, um die unermesslichen, in den früheren europäischen Kolonien bezahlten Kosten der digitalen Landnahme aus dem Globalen Norden und China. Dabei zeigen sich beide Autoren durchaus parteiisch.
Schon in der Einleitung machen sie deutlich, dass es ihnen darum geht, mit ihrer Arbeit einen Beitrag zu leisten, „die Digitalisierung in den Dienst globaler Gerechtigkeit zu stellen“. Und tatsächlich atmen die sieben Kapitel den Geist sozialer und im besten Sinne antiimperialistischer Verantwortung und Selbstverpflichtung. Nicht zufällig ist das letzte Wort der guatemaltekischen Menschenrechtsanwältin Renata Ávila Pinto vorbehalten. In ihrem Nachwort skizziert sie mögliche Schritte, um zu einer gerechteren, den Menschen dienenden globalen Digitalisierung zu gelangen. Dass dramatisches Umdenken und geradezu revolutionäre Eingriffe nötig sind, ist bis dahin deutlich genug geworden.
So wird zunächst mit dem Mythos der sterilen Technologie, die zukunftsweisende Arbeitsplätze in den ärmeren Regionen der Welt schaffe, aufgeräumt. Hochaktuell ist das Beispiel des Dienstleisters Sama, der unter anderem in Kenia Arbeitskräfte, die Inhalte in sozialen Medien oder für Anwendungen von künstlicher Intelligenz sortieren und moderieren müssen, unter unmenschlichen Bedingungen ausbeutet. Das führt direkt in ein Panoptikum postkolonialer Abhängigkeiten. Die wertvollsten Unternehmen der Welt bezahlen an der Peripherie Cent-Beträge für psychisch schwer belastende Tätigkeiten. Diese sind allerdings wichtige Basis für die astronomischen Gewinne, die komplett außer Landes verbleiben.
Wie koloniale Welterklärungsmuster digital verstärkt werden
In einem Kapitel, das sich ausführlich mit der exklusiven Datensammlung und -verwertung weniger Konzerne befasst, wird schlüssig dargelegt, wie koloniale Welterklärungsmuster nachvollzogen und digital verstärkt werden. Die Folge ist die Perpetuierung bereits bekannter ökonomischer und kultureller Abwertung. Wenn Dachwitz und Hilbig schließlich die von internationalen Konzernen vorangetriebene datafizierte Landwirtschaft in den Ländern des Globalen Südens und die dortige rücksichtslose Rohstoffausbeutung thematisieren, wird die Stärke ihres Erklärungsansatzes besonders deutlich. Die völlig ungebrochene Fortsetzung der Ausbeutung der früheren europäischen Kolonien im Kampf zwischen USA, China und in Teilen der EU ist tatsächlich eine offensichtliche Fortsetzung der bereits Jahrhunderte währenden Ungerechtigkeit; ein modernisierter Kolonialismus des digitalen Zeitalters eben. Gleiches gilt für die im Buch beschriebenen digitalen Infrastrukturprogramme, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent, die, kaum altruistisch verschleiert, den Zugang zu einem riesigen Wachstumsmarkt sichern sollen.
Im Buch wird im Übrigen nicht versäumt, zumindest kurz das aus den imperialen Zentren geförderte Verbindungsglied zwischen direkter und vermittelter Abhängigkeit, nämlich die autoritären Diktaturen in den ehemaligen Kolonien, anzusprechen. Dabei geht es nicht nur um historische Beispiele, wie Chile unter Pinochet. Anhand der Auseinandersetzung um die für die Batterieherstellung wichtigen, geografisch aber stark eingeschränkten Lithium-Vorkommen wird auch ein Schlaglicht auf den libertär-rechtsextremen Schwenk in Argentinien unter der Regierung Milei geworfen.
Im „Repression“ überschriebenen Abschnitt werden dann aber Grenzen der Erklärungsmatrix „Kolonialismus“ spürbar. Wünschenswert wäre da beispielsweise eine entschiedenere Fokussierung auf Aspekte der Stabilisierung bestimmter Regime oder eben eine noch systematischere Vertiefung des Komplexes gewesen. Das mag aber auch eine Aufgabe für künftige erweiterte Auflagen sein, von denen dem Buch unbedingt noch einige beschwert sein sollten. Denn die beschriebenen Probleme werden uns weiter begleiten und der Zugang von Ingo Dachwitz und Sven Hilbig hilft, nicht nur diese besser zu erfassen, sondern auch viele ihrer Symptome überhaupt erst zu erkennen und einzuordnen.
So wäre es nach Lektüre der geopolitischen Analysen des Buches spannend, die Einschätzung der Autoren zu einigen aktuellen Entwicklungen in den USA zu lesen. Schließlich ändern Entscheidungen wie die faktische Auflösung der Entwicklungshilfeagentur USAID die Art des Zugriffs auf Länder des Globalen Südens durch Softpower und ändern so auch die Dynamik zwischen den konkurrierenden Zentren in China und der EU. Digitaler Kolonialismus gibt so noch Denkanstöße über sein unmittelbares Thema hinaus. In jedem Falle aber erfüllt das Buch die selbst gestellte Aufgabe, einen gewaltigen blinden Fleck auszuleuchten und aus solidarischer Perspektive eine Kritik der fortwährenden Ausbeutung des Globalen Südens voranzubringen.
Digitaler Kolonialismus. Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen Ingo Dachwitz und Sven Hilbig C. H. Beck 2025, 351 S., 28 €
Digitaler Kolonialismus. Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen Ingo Dachwitz und Sven Hilbig C. H. Beck 2025, 351 S., 28 €