Wirtschafter Sergej Alexaschenko: „Der schwache Rubel ist kein ernstes Problem z. Hd. Putin“
Die russische Wirtschaft mit ihrer neuen, auf den Krieg ausgerichteten Struktur war bisher recht stabil, sodass der aktuelle Absturz des Rubels für Putin kein ernsthaftes Problem darstellt. Die Inflation könnte tatsächlich irgendwann zur Bedrohung werden, aber nicht die heutigen acht oder neun Prozent. Bei 12 oder 15 Prozent wird es schon viel schwieriger für den Haushalt. Bisher ist das alles noch hinnehmbar.
Ich glaube nicht, dass der Absturz des Rubels der Wunsch der Regierung war. Im Haushalt ist mit den Einnahmen bisher alles in Ordnung. Der Dollarkurs begann zu steigen, nachdem die Vereinigten Staaten kürzlich neue Sanktionen gegen russische Banken, darunter die Gazprom-Bank, verhängt hatten, womit die meisten noch existierenden Kanäle für Dollar-Transaktionen mit Russland geschlossen werden. Bis die Sanktionen am 20. Dezember in Kraft treten, zieht jeder, der kann, eilig Kapital aus dem Land ab. Das nennt man Panik. Aber erst wenn die Sanktionen tatsächlich gelten, wird klar sein, ob die Unternehmen neue Wege für die Transaktionen finden werden oder ob es in Russland ein Dollar-Defizit geben wird.
Je schwächer der Rubel, desto höher die Inflation – wann könnte die Teuerungsrate auf die 12,15 Prozent steigen, von denen Sie sprachen?
Ökonomen können zwar sagen, was passieren wird, aber sie können nicht sagen, wann. Wenn Putin den Krieg im gleichen Umfang fortsetzt, oder jedenfalls die Militärausgaben jedes Jahr erhöht, wird sich die Teuerung beschleunigen. Aber wann sie zum echten Problem wird, ist unklar. Auch für eine Stagflation (hohe Inflation bei niedrigem Wachstum, Anm. d. Red) sehe ich bisher keine Anzeichen. Es stimmt, dass sich das Wachstum seit Beginn des Sommers deutlich verlangsamt hat. Aber ob das wirklich langfristig so bleibt, können wir erst gegen Mitte nächsten Jahres sagen, dafür sind sechs Monate der Beobachtung zu kurz.
Die Chefin der Zentralbank, Elwira Nabiullina, wird für ihre sehr strikte Geldpolitik aus der russischen Wirtschaft heftig angegriffen. Sie waren selbst in den Neunzigerjahren in der Führung der Zentralbank – gab es so heftige Vorwürfe immer oder ist das eine neue Qualität?
Die Zentralbank wird immer dafür kritisiert, dass sie kein Geld umsonst hergibt. Bei einem Leitzins von 21 Prozent sind Investitionsprojekte aus dem nicht militärischen Bereich aber tatsächlich unmöglich. Es ist viel profitabler, das Geld auf Sparkonten einzuzahlen. Der Leitzins ist in meinen Augen ohnehin das falsche Mittel zur Bekämpfung der Inflation, da sie durch die Militärausgaben angeheizt wird. Und ein noch so hoher Zinssatz hat keinen Einfluss auf Putins Wunsch, den Krieg fortzusetzen und die Militärausgaben zu erhöhen. Die Kritik ist also verständlich. Aber es ist Nabiullinas Entscheidung, im Amt zu bleiben und Putins Politik zu verteidigen.
Das stimmt nicht. Sie wollte nicht gehen. Nabiullina glaubt, dass es möglich ist, ihre Arbeit ehrlich und gewissenhaft zu machen, ohne sich um die äußeren Bedingungen zu kümmern. So ähnlich denkt die Mehrheit der Russen über den Krieg: Es ist ohnehin zu kompliziert, um eine eigene Entscheidung zu treffen. Soll doch Putin entscheiden, was richtig ist, was falsch. Ihm vertrauen wir. Das ist auch Nabiullinas Ansatz: „Ich tue, was ich tun soll, löse meine Aufgaben. Was Putin macht, geht mich nichts an.“
Viele Russen profitieren vom Krieg, die Löhne steigen so stark wie seit Jahren nicht mehr. Aber das betrifft vor allem Angestellte in kriegswichtigen Branchen und natürlich die Soldaten. Staatsangestellte wie Lehrer und Ärzte verdienen weiterhin wenig, auch Rentner leiden unter der hohen Inflation. Könnte ihre Unzufriedenheit zum Problem werden?
Ich kann mich an eine spürbare Verschlechterung der Lebensqualität in der Sowjetunion seit Ende der Siebzigerjahre erinnern. Aber Proteste gab es deshalb so gut wie keine, selbst als die Läden leer waren. Und das heutige politische Regime ist viel brutaler als das damalige – jede Form von Widerstand wird vom Kreml sehr schnell und entschlossen unterdrückt.
Auf der anderen Seite gibt es die Soldaten und ihre Familien, die meist aus armen Regionen stammen und plötzlich viel mehr verdienen als früher. Die Summen, die der Staat für den Einsatz an der Front bietet, steigen immer weiter. Hat das damit zu tun, dass die hohen Verluste an der Front immer mehr Familien betreffen?
Der Westen unterschätzt, dass es in Russland viele Menschen gibt, die bereit sind, ihr Leben für 25 Jahre Gehalt zu verkaufen. Denn für einen getöteten Soldaten bekommt seine Familie bis zu 12,5 Millionen Rubel (umgerechnet rund 107.000 Euro, Anm. d. Red.). Das Durchschnittsalter eines Vertragssoldaten liegt bei 38 Jahren. Wenn ein 40 Jahre alter Mann den Dienst antritt, und ein Jahr später getötet wird, bekommt seine Familie also sofort so viel Geld, wie er in den nächsten 25 Jahren verdient hätte. Er hätte aber vielleicht gar keine 25 Jahre mehr gelebt, vor allem in einer strukturschwachen Region mit schlechter Gesundheitsversorgung. Diese Rechnung ist zwar zynisch und unmenschlich, aber das ist der Kompromiss, den Putin mit der Bevölkerung eingegangen ist.
Nur ist dieser Kompromiss schon jetzt teuer für den Kreml, und er wird immer teurer. Könnte ein für längere Zeit niedriger Ölpreis dazu führen, dass Russland das Geld ausgeht?
Der größte Fehler westlicher Politiker und Experten ist zu glauben, dass der Ölpreis in Dollar klar den russischen Haushalt beeinflusst. Der läuft aber in Rubel, und der Dollar-Ölpreis ergibt je nach Wechselkurs einen anderen Geldbetrag im Haushalt. Ist der Ölpreis niedrig, kann der Rubel abwerten, und im Haushalt kommt dennoch genug Geld an. Die russische Wirtschaft kann bei einem Ölpreis von 50 Dollar pro Barrel lange, lange Zeit überleben – viel länger als die amerikanische Ölindustrie.
Das heißt, der Ölpreisdeckel, der dafür sorgen soll, dass Russland am Ölexport weniger verdient, kann gar nicht funktionieren?
Die derzeitigen Sanktionen gegen russisches Öl funktionieren nicht, weil Indien und China, die Hauptabnehmer, sich ihnen nicht angeschlossen haben. Diesen Kampf zwischen Bürokratie und Marktwirtschaft gewinnt der Markt, weil die Bürokraten nicht alle Schlupflöcher schließen können. Deshalb haben meine Kollegen Wladislaw Inosemzew und Dmitrij Nekrassow (beide ebenfalls russische Exilökonomen, Anm. d. Red.) und ich Vorschläge für ein anderes Sanktionsregime entwickelt. Dabei würde man den Markt gegen den Kreml arbeiten lassen. Statt eines Einfuhrverbots für russisches Öl könnte die EU einen Einfuhrzoll von zehn Dollar erheben. Dieses Geld würde zur Unterstützung der Ukraine verwendet. Zehn Dollar sind ungefähr so viel wie der aktuelle Rabatt auf russisches Öl. Das heißt, Russland würde ähnlich viel verdienen wie jetzt. Aber die EU würde profitieren, denn sie bekäme billigeres Öl als das aus arabischen Ländern, das um Afrika herum transportiert werden muss. Und sie hätte Geld, um die Ukraine zu finanzieren.
Welche Sanktionen wirken aus Ihrer Sicht besser?
Die technologischen Sanktionen. Russlands Rückstand gegenüber dem Westen wird immer größer. Etwa bei der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz, weil Russland keinen Zugang zu modernen Chips hat. Auch in der Luftfahrt mehren sich Probleme, da einige Triebwerke nicht repariert werden können. Und die Flüssiggasprojekte von Novatec sind nicht in Betrieb, weil das Unternehmen keine Spezialtanker hat, um das Gas zu verschiffen. Sogar aus China kommt kaum Technologie und Ausrüstung, weil es nur an Russland als Absatzmarkt interessiert ist, aber nicht als Konkurrent. Aber dies alles wird sich erst in Zukunft durch niedrigeres Wirtschaftswachstum bemerkbar machen. Heute sieht man die Folgen noch nicht so stark.
Gibt es wirtschaftliche Maßnahmen, die der Westen jetzt noch ergreifen könnte?
Man müsste es den Russen erleichtern, ihr Geld außer Landes zu bringen. Denn wegen der westlichen Beschränkungen, was die Anlage von Geld aus Russland angeht, ist sehr viel Kapital nach Russland zurückgebracht worden und stützt nun die russische Wirtschaft. Um das zu ändern, müssten die geschlossenen Türen wieder geöffnet werden. Aber das, haben mir Beamte in Brüssel ganz offen gesagt, werde nicht geschehen, weil es ein Eingeständnis der eigenen Fehler wäre.
Kriegsgegner und Nawalnyj-Unterstützer
Sergej Alexaschenko war von 1993 bis 1995 stellvertretender Finanzminister und von 1995 bis 1998 stellvertretender Vorsitzender der russischen Zentralbank. Seit 2014 lebt er in Washington, wo er als Berater tätig ist und häufig in Interviews russischer Exilmedien auftritt. 2018 war er einer der Autoren des Wirtschaftswahlprogramms des damaligen Präsidentschaftskandidaten und Oppositionsführers Alexej Nawalnyj, der im Februar dieses Jahres in russischer Haft umgekommen ist.
Nach der Vergiftung Nawalnyjs mit Nowitschok im August 2020 bezahlte Alexaschenko mit einigen anderen Russen die Behandlung Nawalnyjs in der Berliner Charité. Er ist Mitglied des „Antikriegskomitees Russlands“, das von Exiloppositionellen nach Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 gegründet wurde.