Wirecard-Geschädigte: Angriff uff Grundsätze jener Haftung

Seit jeher gilt im Wirtschaftsleben eine bewährte Ordnung. Danach profitieren Aktionäre vom unternehmerischen Erfolg, tragen aber im Krisenfall auch das höhere Risiko des Totalverlusts. Gläubiger hingegen erhalten nur eine begrenzte Verzinsung und teilen sich im Insolvenzfall das verbliebene Vermögen.
Doch genau dieses Prinzip droht gerade auf den Kopf gestellt zu werden, ausgerechnet durch einige Großaktionäre der insolventen Wirecard AG. Mit dem Argument verletzter Anlegerschutzvorschriften fordern sie, als vermeintlich in die Irre geführte Aktionäre mit ihren Verlusten in der Insolvenz gleichberechtigt neben Kreditgebern, Dienstleistern und Lieferanten zu stehen und an der Verteilung der Insolvenzmasse teilzunehmen.
Über diese Klage hat der Bundesgerichtshof (BGH) Mitte Oktober mündlich verhandelt. Falls sich die Kläger durchsetzen, droht ein Paradigmenwechsel. Aktionäre könnten sich eine Rendite aus jenen Töpfen sichern, die bisher ausschließlich und verbindlich Gläubigern vorbehalten sind.
Entschädigung spekulativer Anleger zu Lasten der Gläubiger?
Das wäre bemerkenswert, denn die klagenden Aktionäre dürften ihre Aktien zumeist auf dem Kapitalmarkt erworben und insoweit selbst nichts an die Wirecard AG und damit in die nunmehr zu verteilende Insolvenzmasse gezahlt haben. Die von den klagenden Aktionären jetzt als Schadenersatz geltend gemachten Aktienkaufpreise sind vielmehr als Spekulationsgewinne über den Kapitalmarkt an Dritte geflossen.
Was findige Dritte verdient haben, das sollen nun Gläubiger ersetzen, die lediglich das aus der Insolvenz fordern, was sie tatsächlich als Liquidität, Dienstleistungen oder Lieferungen ins Unternehmen gegeben haben. Nun sollen ihnen Verluste aufgebürdet werden, die aus spekulativen Geschäften resultieren. Denn vor dem Zusammenbruch des Zahlungsdienstleisters wurde der Börsenwert auf der Jagd nach Kursgewinnen auf bis zu 24 Milliarden Euro getrieben, obwohl tatsächlich insgesamt wohl weniger als 800 Millionen Euro an Eigenkapital in die Wirecard AG geflossen sind.
Mit der Klage vor dem BGH reklamieren Aktionäre aber Schadenersatz in Höhe von 8,5 Milliarden Euro und argumentieren spitzfindig, sie seien „auf dem Weg zum Aktienerwerb“ in die Irre geführt worden. Ihre Verluste seien deshalb von ihrer Aktionärsstellung entkoppelt und wie alle anderen Gläubigerforderungen zu behandeln. Die klagenden Aktionäre seien so zu stellen, als hätten sie die Mitgliedschaft nie erworben.
Dabei lassen die Aktionäre außer Acht, dass sie ihren Schaden zum einen gerade anhand des Aktienkaufpreises und nicht des korrespondierenden Eigenkapitals ermittelt wissen wollen. Ferner wird übersehen, dass Aktionäre auch nie darüber getäuscht wurden, dass sie eine Aktie und eben keine Anleihe erwerben. Über die Anlageklasse und ihr Verlustrisiko gab es keine Irreführung und mithin auch keinen Irrtum.
Vermeintliche Falschinformationen gab es lediglich über den Zustand und Ausblick des Unternehmens und damit die zukünftigen Dividenden- und Erlöserwartungen für die Aktionäre, die den Wert der Aktie ausmachen. Die Verluste der Aktionäre und der geltend gemachte Schaden sind gerade nicht von der Aktionärsstellung entkoppelt.
Im Widerspruch zu Prinzipien des Insolvenzrechts
Eine Entschädigung von Aktionären für ihre Spekulationsverluste aus der Insolvenzmasse widerspräche dem grundsätzlichen Prinzip des Insolvenzrechts, wonach Zahlungen an Gesellschafter auf Basis ihrer Gesellschafterstellung erst nach der vollständigen Befriedigung aller Gläubiger möglich sind.
Dennoch unternehmen gerade institutionelle Großinvestoren erstmals diesen Versuch durch alle Rechtsinstanzen hindurch, obwohl dies auch das eigene Geschäftsmodell der Kläger infrage stellen dürfte. Denn solche Investoren investieren selbst nicht nur in Aktien, sondern auch in erheblichem Umfang in sicherere, festverzinsliche Anlagen. Das Risikoprofil festverzinslicher Anlagen würde jedoch erheblich verschoben, wenn Gläubiger das unkalkulierbare Risiko einbeziehen müssten, plötzlich gleichrangig neben Aktionären mit ihren Spekulationsschäden zu stehen.
Die von den Klägern geltend gemachten Kapitalmarkt-Schutzvorschriften enthalten zwar keine klare Regelung für den Insolvenzfall. Doch Ziel und Zweck der deutschen Gesetzgebung dürfte es nicht gewesen sein, die Systematik von Chancen und Risiken verschiedener Anlageklassen auf den Kopf zu stellen. Schon gar nicht hatte der Gesetzgeber im Sinn, Unternehmensfinanzierungen in Deutschland durch Änderung grundlegender Rangverhältnisse und Risikoprofile von Anlageklassen im internationalen Vergleich weiter zu verkomplizieren und zu verteuern.
Der Ausgang dieses Prozesses ist daher von grundlegender Bedeutung für die Wirtschaftsordnung. Fällt die Grenze zwischen Eigen- und Fremdkapital im Insolvenzverfahren, kann dies erhebliche Folgen für Unternehmensfinanzierungen in Deutschland haben. Denn Finanzierer brauchen Stabilität und klare Regeln, aber nicht noch mehr Unsicherheit anstelle der viel beschworenen Kapitalmarktunion.
Uwe Goetker ist Rechtsanwalt und Partner der internationalen Kanzlei McDermott Will & Schulte.