„Wir zeugen es sämtliche mal zusammen: Scho-Ko-Kuss“, sagt jener Moderator

Der Wahnsinn geht weiter: In der neusten Ausgabe von „Die 100“ fragt Ingo Zamperoni, ob Deutschland „zu woke“ sei. Während die Moderatoren mit Sombrero- und Schokokuss-Lektionen durch das Studio führen, wirken ausgerechnet die Teilnehmer als Korrektiv.

Bislang fiel die Kritik verheerend aus. In der vergangenen Woche hatte sich das ARD-Format „Die 100“ der Frage gewidmet, ob Deutschland gut regiert werde. Zur Visualisierung diente den Moderatoren dabei ein Merz-Pappkamerad, der mit Kopf- und Halsschmuck in Schwarz-Rot-Gold dekoriert war.

Die jüngste Ausgabe versprach noch größeres Trash-Potenzial. „Gendern, Schnitzel, Minderheitenschutz: Ist Deutschland zu woke?“, fragte Moderator Ingo Zamperoni zu Beginn. „Was kann ich eigentlich noch sagen? Was ist rassistisch, wenn ich es anziehe? Und sollte ich eigentlich gendern?“

Würde die Sendung wie eine Bürgerversammlung funktionieren, fiele das Ergebnis wohl noch annehmbar aus. Die 100 versammelten Teilnehmer diskutierten höflich miteinander und traten unabhängig von ihrer Meinung besonnen auf. Doch der ARD-Moderator brachte zwei Sidekicks mit. Als solche fungierten Linda Zervakis und Ralph Caspers. Zervakis übernahm die Position einer „Meinungspolizei“ und bestimmte, wer was sagen dürfe, Caspers stand für die Gegenseite ein. Die Festlegung erfolgte per Los, erklärte der Leiter in gespielter Seriosität, als ob sich das Format an Regeln althergebrachter Debattierclubs orientierte. In Wahrheit überbetonten Zervakis und Caspers ihre gespielten Positionen – und verkauften beide Seiten der Zuschauerschaft innerhalb und außerhalb des Studios für dumm.

Lesen Sie auch

„Liebe 100, ich habe Ihnen Sombreros mitgebracht“, leitete Zervakis die Debatte über kulturelle Aneignung ein. „Ein falsches Wort, ein falsches Kostüm – und schon steht man blöd da.“ Während sie die Kämpferin für die in die Enge getriebene Bürgerin mimte, die sich kaum noch zu helfen zu weiß, klatschte und schunkelte das Publikum mit breitkrempiger Kopfbedeckung zu vermeintlich grenzverletzenden Karnevals-Gassenhauern. In immer luftigere Höhen trieb das Format seine Absurdität. Zervakis wollte herausfinden, welche Kostümierungen nach wie vor goutiert werden.

Ist es noch in Ordnung, sich als Scheich, „sexy Krankenschwester“ oder als Serienmörder Jason Voorhees aus der Horrorfilm-Reihe „Freitag der 13.“ zu verkleiden? Unfreiwillig komisch ging die Co-Moderatorin die Ergebnisse durch. „Platz 1: Die ‚sexy Krankenschwester‘ ist völlig in Ordnung für sie“, stellte sie fest. Den Killer nahmen die Teilnehmer als weniger problematisch wahr als den „Indianer“. Auf dem letzten Platz landete der Scheich. Zervakis glaubte, gar tiefere Erkenntnisse aus ihrer Versuchsanleitung gewonnen zu haben: „Sie sehen also, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen, gleicht einem Lauf auf rohen Eiern.“

Lesen Sie auch

„Wenn man einen Sombrero sieht, dann denkt man vielleicht in erster Linie an einen mexikanischen Bauern mit Gitarre – und eben nicht an eine Ärztin oder an einen Ingenieur“, beklagte hingegen Caspers. „Und das ist das große Problem.“ Gut, es ließe sich einwenden, dass sich jemand auch als Ärztin verkleiden könnte, um besagte Assoziation zu erzeugen. Zur Not tut es womöglich auch die „sexy Krankenschwester“. Zumindest die Teilnehmer konnten sich darauf ja mehrheitlich einigen. Zamperoni rundete die Aktion schließlich ab. „Sie können jetzt Ihre Sombreros alle ausziehen und hier nach vorne werfen“, forderte er sein Publikum auf und erzeugte mit den Bildern der achtlos auf den Studioboden gepfefferten Hüten das viel größere Störgefühl.

Eine weitere Studioaktion leitete der Moderator der „Sendung mit der Maus“ ein, indem er Zamperoni als „Arschloch“ bezeichnete. Es sei doch immerhin nur ein Wort, insistierte Caspers. „Außerdem ist das Körperteil sehr wichtig. Ohne Arschloch würden wir nicht leben können.“ Und doch gehöre es zu den Verhaltensregeln des Zusammenlebens, niemanden so zu nennen. Politische Korrektheit bedeute, sich Mühe zu geben, niemanden zu verletzen. „Sei kein Arschloch!“

Das Foto eines Schaumkusses erschien. „Ich weiß nicht, welches Wort als Erstes in Ihrem Kopf ist“, fuhr er seinen Frontalunterricht fort. „Wir machen es alle mal zusammen: Scho-Ko-Kuss.“ Das Publikum tat, wie ihm befohlen. „Das geht super: Pap-Ri-Ka-Schnit-Zel. Alle zusammen!“ Mantraartig bläute er es den Menschen ein. Es wirkte wie eine satirische Szene aus der Serie „South Park“.

Trotz ihres Gehorsams waren es die Teilnehmer, die neben dem moderierenden Dreiergespann eine nüchterne Haltung bewahrten. „‚Stay woke‘ heißt ‚bleib wachsam‘ – gegenüber Machtmissbrauch, gegenüber Unterdrückung, gegenüber Menschen, die sensibel sind“, schilderte ein Pastor. Ein Bankkaufmann führte in aller Ruhe aus, dass womöglich zu viel in die Frage der korrekten Karnevalskostümierung hineininterpretiert werde. „Vielleicht sollten wir einfach mal die Mexikaner und indigenen Völker fragen.“ Zwei Zuschauer diskutierten über die feinen kommunikativen Unterschiede, wenn sich Menschen in einem freundschaftlichen Rahmen als „Wichser“ oder „Kanake“ begrüßten oder es eben einem Fremden an den Kopf geworfen werde.

Lesen Sie auch

Als der frühere Fußball-Profi Jimmy Hartwig ehrlich berührt über handfeste rassistische Zwischenfälle berichtete, stellte ein aufmerksamer Zuschauer den Zusammenhang infrage. „Ich habe als Kind auch unschöne Erfahrungen gemacht“, erinnerte sich der dunkelhäutige Jurist. „Hier werden zu viele Sachen miteinander vermischt. Ich weiß jetzt nicht, was seine Rassismus-Erfahrungen mit dem Sombrero zu tun haben.“ So kam es immer wieder den „normalen Menschen“ zu, als Korrektiv für schräge Redaktionsentscheidungen zu dienen, während die Moderatoren offenbar ihr Publikum aufstacheln wollten.

Source: welt.de