„Wir wollen keine deutschen Verhältnisse“: Wie Flixtrains Lohndumping die Schweiz bedroht
Statt auf ein starkes Bahnnetz setzte die EU in den letzten Jahren auf die Strategie der Marktöffnung. Ergebnis: Unternehmen wie Flixtrain bieten miesen Komfort und fallen durch Sozialdumping auf. Unsere Nachbarn sind alarmiert
Die Schweizer wollen sich Flixtrain lieber vom Hals halten – aus guten Gründen?
Foto: Alessandrto Della Bella/picture alliance
Man kann es nicht oft genug sagen: Ohne ein technisch funktionierendes, preislich attraktives und räumlich erschöpfendes Bahnsystem lässt sich die Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene nicht umsetzen. Die Europäische Kommission behauptet, das verstanden zu haben. Deshalb will sie den grenzüberschreitenden Bahnverkehr bis 2050 verdreifachen. Doch allen umwelt- und klimapolitischen Ambitionen zum Trotz ist festzustellen, dass die Verkehrswende mit einer klaren Prioritätensetzung zugunsten der Bahn in der EU bislang ausgeblieben ist.
Der Anteil der Bahn am schon seit Jahrzehnten liberalisierten Güterverkehr liegt EU-weit nach wie vor bei nur 17 Prozent, während der Transport auf der Straße weiter zunimmt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Aber eines steht fest: Nachdem bis in die 1990er-Jahre eine umfassende Regulierung des Bahnwesens unter Verweis auf dessen vielfältige Eigenheiten gerechtfertigt worden war, setzte sich in den vergangenen drei Jahrzehnten der neoliberale Dreiklang aus Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung durch.
Das Ergebnis der EU-Politik: Flixtrain
Brüssel ging erkennbar den Weg der Marktöffnung. Ergebnis dieser Strategie ist unter anderem das Münchener Unternehmen Flix SE. Dieses ist nicht nur mit den Marken FlixBus und Greyhound Lines im Fernbusverkehr sichtbar, sondern seit März 2018 mit seinen FlixTrains als einziger nennenswerter Wettbewerber auch im deutschen Schienenfernverkehr vertreten.
Nachdem FlixBus 2020 aufgrund von rund 30 unzulässigen Vertragsklauseln – das Unternehmen wollte sich etwa der Verantwortung im Falle von vom Unternehmen verschuldeten Gepäckverlusten entledigen – in die österreichischen Schlagzeilen geriet, kam zuletzt auch kritische Berichterstattung aus der Schweiz auf.
Anlass dafür waren Sorgen darüber, dass das deutsche Eisenbahnverkehrsunternehmen mittels Lohndumping-Praktiken auf den Schienenverkehrsmarkt des Alpenlandes drängen könnte. Nachdem bereits die schweizerische Gewerkschaft des Verkehrspersonals (SEV) ihre Besorgnis hinsichtlich der laufenden Verhandlungen zwischen Kommission und Regierung zum Ausdruck gebracht hatte, schaltete sich auch die Europäische Transportarbeiter-Föderation (ETF) ein:
„Insbesondere die Ausweitung von FlixTrain auf das Schweizer Bahnwesen ist besorgniserregend, da dieses Geschäftsmodell die Gefahr birgt, dass das Sozialdumping auf ein Land übergreift, das bisher ein Vorbild für ein gut funktionierendes und soziales Bahnsystem war.“ – „Wir wollen keine deutschen Verhältnisse“, ließ sich Pierre-Yves Maillard, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB), unlängst zitieren.
Gemütlich sind Flixtrains nicht, zeigen Erfahrungsberichte
Dass Fahrten mit FlixTrain keineswegs mehr Komfort bringen, belegt ein eindrücklicher Fahrgastbericht, der vergangenes Jahr in der Welt abgedruckt wurde: „Im Inneren des Zuges werden Kindheitserinnerungen wach. Es rumpelt, die Waggons rattern so laut über die Schienen, dass so manche Durchsage im Lärm untergeht. Klimaanlage gibt es keine, genauso wenig wie ein Bordbistro. Das WLAN funktioniert immer öfter, aber selten gut. Die Sitze sind hart und aufrecht, größere Menschen beschweren sich über fehlende Beinfreiheit.“
Und auch Elsa Köster ließ die Leser:innen mit ihrem gerade veröffentlichten Erlebnisbericht im Freitag aufhorchen. Doch wieso breitet sich Flixtrain immer weiter auf dem deutschen Markt aus, obwohl so viele mit dem Unternehmen unzufrieden sind?
Die Wahrheit ist: Der Wettbewerb im deutschen Schienenverkehr ist beinahe zum Erliegen gekommen. Nur noch durchschnittlich 1,4 Bewerber:innen finden sich pro Vergabeverfahren. Wenn man anerkennt, dass der generationenübergreifende Zeithorizont, auf den das Bahnwesen angelegt ist, in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis zu den quartalsgetriebenen Rentabilitätsinteressen privater Eisenbahnverkehrsunternehmen steht, muss sich die Öffnung des Schienenverkehrsmarktes für andere Anbieter als die Deutsche Bahn auch im Fernverkehr als fatal erweisen.
Welche Verwerfungen die kurzfristigen Profitinteressen kapitalmarktorientierter Eisenbahnverkehrsunternehmen, deren Erfolg sich nach dem Willen ihrer Anteilseigner:innen bestenfalls schon in den nächsten Quartalszahlen niederschlagen soll, für das „System Schiene“ mit sich bringen, belegen die Erfahrungen mit der qua Liberalisierung ausgelösten Fragmentierung des britischen Bahnsystems eindrücklich. Im kleineren Maßstab zeigen die Fälle „Flix“ und „Abellio Rail“, dass sich die von der Europäischen Kommission beschworene belebende Kraft des (Ausschreibungs-)Wettbewerbs vielfach als ruinös erweist – zulasten der Beschäftigten, der Fahrgäste und des Schienenverkehrsaufkommens.