„Wir hatten solche Angst“: Frankreichs linke und Mitte-Wähler Luft kriegen gen
In der Menschenmenge, die sich am Sonntagabend auf dem Place de la République in Lyon versammelt hatte, war die Nervosität deutlich zu spüren. Als die letzten Wahllokale der bedeutsamsten Wahl der jüngeren Vergangenheit in Frankreich schlossen, warteten Hunderte Menschen darauf, zu erfahren, was auf das Land zukommen würde.
Kurz nach 20 Uhr kam Florent Martins über den Platz gerannt, mit einem Handy in der Hand. „Wir haben gewonnen“, rief der 23-jährige laut, seine Stimme zittrig, als könne er es noch nicht richtig glauben, während die Anwesenden in Jubel und lauten Applaus ausbrachen. „Die Linke hat gewonnen.“
In einem Überraschungssieg wurde das breite Linksbündnis Neue Volksfront mit 182 Sitzen zur stärksten Kraft im französischen Parlament gewählt. Emmanuel Macrons Mitte-Lager Ensemble erreichte mit 163 Sitzen Platz zwei und schnitt damit besser ab, als erwartet. Unterdessen kam Marine Le Pens rechtsnationale, gegen Immigration eingestellte Partei Rassemblement National mit 143 Sitzen an dritte Stelle.
Greifbare Erleichterung in Paris
„Das ist so gut“, sagte Martins. „Ich hatte den ganzen Tag totale Panik.“ Ganz in der Nähe beschrieb die 69-jährige Veronique Leporte die Ergebnisse als überwältigend. „Es ist eine riesige Erleichterung“, erklärte sie. „Wir hatten solche Angst.“
Dieses Gefühl hallte im ganzen Land wider. In Paris ertönten Freudenschreie angesichts der Projektionen der Ergebnisse, die zu spontanen Umarmungen unter Fremden und minutenlangem Applaus führten. Auf den Place de la République in Paris strömten Tausende, um zu feiern, und schwenkten Schilder mit der Aufschrift „Frankreich ist durch Migration zusammengenäht“ und „Frankreich sagt: Fick dich zum RN“, die ähnlich auch auf Kundgebungen in Städten wie Toulouse und Nantes zu sehen waren.
Vor den Wahlen hatten Umfragen wiederholt den Eindruck erweckt, der RN sei auf dem Weg, die stärkste Kraft im französischen Parlament zu werden. Im Laufe des Sonntags, als bei der Stichwahl die Wahlbeteiligung so hoch stieg wie seit vier Jahrzehnten nicht, stellten sich wohl alle die Frage, ob der RN eine absolute Mehrheit gewinnen würde.
Am Sonntagabend erwies sich keine der beiden Vorhersagen als richtig. „Ich glaube, dieses Ergebnis ist für alle eine Überraschung, egal ob für die Faschisten oder einen Linken wie mich“, meinte der 52-jährige Charles Domeignoz, der seit vielen Jahren Mitglied der Partei Unbeugsames Frankreich (LFI) ist. „Ich glaube, eine Menge Leute haben – wie ich – in den vergangenen Wochen schlecht geschlafen und wenig gegessen“, fügte er hinzu. „Und heute Abend fühlt es sich richtig gut an, oder?“
Vereint gegen rechts
Bei einigen war aber die Erleichterung durch die Tatsache getrübt, dass die Wahl den RN gestärkt hat. Die Rechtsnationalen konnten ihre 88-köpfige Fraktion, die sie im scheidenden Parlament vertritt, fast verdoppeln. „Ich will, dass Emmanuel Macron zurücktritt“, forderte der 37-jährige Stéphane. Der Präsident solle im Herbst Wahlen ansetzen: „Wenn er ein bisschen Mut und Ehrlichkeit besitzt, sollte er zurücktreten, weil er schließlich zum Aufstieg der Rechtsnationalen beigetragen hat.“
Ein Teil des Ergebnisses von gestern ist wahrscheinlich auf die konzertierten, wochenlangen Bemühungen zurückzuführen, den RN zu verhindern, die in den letzten Tagen noch verstärkt wurden, nachdem er in der ersten Wahlrunde als stärkste Partei hervorgekommen war. Von Montpellier bis Marseill wurden Menschen sprunghaft aktiv, um die Rechtsnationalen von den Toren der Macht fernzuhalten. Zwischen der ersten und zweiten Wahlrunde zogen mehr als 200 Kandidaten ihre Kandidatur zurück, um eine vereinte „republikanische Front“ zu bilden und einen Sieg des RN zu verhindern.
Unter denen, die die französischen Wähler aufriefen, gegen den RN zu stimmen, waren Historiker, Rechtsanwälte und muslimische Anführer. Ihre Bemühungen wurden unterstützt durch 10.000 Christen, die eine Kampagne unterschrieben, in der der RN als politische Kraft beschrieben wird, die „nichts bietet außer Manipulation und Illusion“, während sie sich vor Lösungen drücke und stattdessen Ausländer zum Sündenbock mache.
Angst vor Gewalt nach der Wahl
Der kurzsichtige Fokus des RN ist gescheitert, freute sich der 40-jährige Ali. „Wir sind froh, weil wir keinen Rassismus mögen“, fügte er hinzu. „Der RN hat nichts zu Löhnen und Gehältern, Pensionierung oder Renten gesagt. Er sprach immer nur über Ausländer und den Islam.“
Die wochenlangen Wahlen hatten Frankreich gespalten. Einige sahen sich dadurch ermutigt, Muslime und People of Colour ins Visier zu nehmen, dass der RN versprach, Doppelstaatsangehörige von bestimmten Arbeitsplätzen auszuschließen, die Staatsbürgerschaftsrechte für Kinder ausländischer Eltern, die in Frankreich geboren und aufgewachsen sind, abzuschaffen und sich für ein Kopftuchverbot an öffentlichen Orten einzusetzen.
Die Atmosphäre im Land sei „extrem angespannt“, sagte Raphaël Glucksmann, der die französische Linke bei den Europawahlen angeführt hatte, vergangene Woche gegenüber dem Radiosender France Inter. „Frankreich steht am Abgrund und wir wissen nicht, ob wir springen werden.“
In Lyon hatten am Sonntag Dutzende Läden die Fenster verrammelt, um sich vor dem Risiko gewaltsamer Proteste zu schützen. Rund 30.000 zusätzliche Polizisten waren im Land eingesetzt, da Frankreichs Innenminister Befürchtungen geäußert hatte, dass Wahlergebnis könne genutzt werden, um „Chaos“ zu verursachen.
Nach der Wahl wird es kompliziert
Anfang der 1970er als Front National gegründet, gehörten damals zu Le Pens Partei frühere Waffen-SS-Soldaten unter Nazi-Kommando während des Zweiten Weltkriegs. Mit ihren antisemitischen, homophoben und rassistischen Ansichten war die Partei lange Zeit ein Paria und galt weithin als Gefahr für die Demokratie. Während Marine Le Pen einen Großteil der vergangenen zehn Jahre damit verbracht hat, das Image der Partei weicher zu machen, hat die Partei ihre tiefe Ablehnung gegenüber Immigranten und Muslimen beibehalten.
Am Sonntag, als die Hochrechnungen auf ein polarisiertes Parlament hindeuteten, warteten viele gespannt darauf, wie viele Sitze in Frankreichs Nationalversammlung die Parteienbündnisse genau erhalten würden.
Analysten hatten davor gewarnt, dass die Wahl eine längere Phase der politischen Lähmung in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Eurozone bringen könnte, zu einem Zeitpunkt, da Frankreich sich auf die Olympischen Spiele im Land Ende Juli vorbereitet und Europa weiterhin mit dem Krieg in der Ukraine zu kämpfen hat.
„Es wird kompliziert“, meinte auch ein 29-jähriger, der nicht namentlich genannt werden wollte. „Aber mit diesem Problem befassen wir uns morgen. Die Linke hat zwar keine absolute Mehrheit gewonnen, und wir müssen abwarten, ob sie ihre Kräfte mit Macrons Mitte-Lager bündelt. Aber heute ist ein guter Tag.“