„Wir gingen oben tote und gequetschte Menschen hinweg“
Die Menschen hatten sich in den Kirchen versammelt, als am 1. November 1755 Erdbeben und Tsunami Lissabon zerstörten. Eine der größten Naturkatastrophen in der Geschichte Europas forderte Zehntausende Tote und erschütterte das Vertrauen auf Gott.
Am Morgen des 1. Novembers 1755 hatte das Schiff den Hafen von Lissabon verlassen und bereits die weite Mündung des Tejo erreicht, als Johann Jakob Moritz, Mitarbeiter eines Hamburger Handelshauses, erschreckende Beobachtungen machte: „Plötzliche Windstille: fernes Grollen eines nahenden Gewitters … fast gänzlich verschwundene Sonne. Hochauf erhob sich das Meer, im heftig zuckendem Stoße sank das Schiff zur Seite in die Tiefe … ward es im selben Momente hoch in die Luft erhoben; ohne einen Windhauch auf brüllender langer weißschäumiger Welle … Hier wo sich Meer Strom und Land überblicken ließ, hier war nichts Lebendes, keiner der unzähligen Seevögel, keine Bewegung an unserem Lande, kein Boot am Ufer nichts! Gar nichts!“
Das galt auch für die kirchlichen Feierlichkeiten, die große Wallfahrt und die Kanonensalven vom königlichen Schloss, die wegen des hohen Feiertages Allerheiligen eigentlich zu erwarten waren. Denn seit 9:40 Uhr war alles anders. Lissabon war nicht mehr. Ein Erdbeben von der Stärke 8.5–9 auf der Richter-Skala, dessen Epizentrum 200 Kilometer südwestlich im Atlantik lag, hatte die Stadt getroffen und damit eine der größten Naturkatastrophen der europäischen Geschichte ausgelöst.
Denn die anschließenden, mehrere Minuten anhaltenden Beben und die durch sie hervorgerufenen Tsunamis vernichteten nicht nur die portugiesische Hauptstadt, sondern erschütterten auch das Selbstbewusstsein der Aufklärung, in der besten aller Welten zu leben.
Der hohe Feiertag dürfte die Zahl der Opfer noch vermehrt haben. Denn am Vormittag nahmen viele Menschen an den Gottesdiensten in den Kirchen teil, die fast alle ein Opfer des Bebens wurden. Auch Paläste, Klöster und Brücken hielten dem Beben nicht stand, darunter die königliche Residenz, ebenso das neue Opernhaus und die Staatsbibliothek. Denn bei den Erdstößen blieb es nicht. 15 Meter hohe Tsunami-Wellen schlugen auf die Quartiere am Ufer ein, wohin sich viele Überlebende gerettet hatten. Die Feuer in den zerstörten offenen Herden lösten eine Feuersbrunst aus, die fünf Tage lang wütete.
Von den etwa 250.000 Einwohnern, schätzen Historiker, dürften 30.000 bis 60.000 Opfer der Katastrophe geworden sein. 33 Paläste, 54 Klosteranlagen und 20.000 Wohnhäuser, mehr als 80 Prozent der Bausubstanz, verwandelten sich allein in Lissabon in Ruinen. Hinzu kamen die Opfer in den benachbarten Regionen. Allein in Marokko sollen Flutwellen 10.000 Menschen in den Tod gerissen haben. Selbst in Venedig, in den Niederlanden und im Heiligen Römischen Reich wurden Beben registriert. In Luxemburg stürzte eine Kaserne ein und mehrere Soldaten starben.
Die Berichte der Überlebenden wurden auf dem gesamten Kontinent Tagesgespräch: „Meine Frau saß im Bette und betete zu Gott, die Kinder aber standen rund ums Bette herum und schrien: Ach! Mama! helft uns! … Dennoch gab mir Gott die Kraft, meine Familie glücklich im Haus herunterzubringen“, schrieb ein deutscher Kaufmann: „Wir gingen getrost vom Platze über tote und gequetschte Menschen wiederum hinweg und kamen endlich glücklich aufs Feld, allwo schon viele tausend Einwohner versammelt waren.“
Panik brach aus. „Wir mussten diese Heiligenbilder küssen“, echauffierte sich der Protestant, „wollten wir nicht vom Pöbel gesteinigt werden“. Denn man war sich einig, dass Gott an der reichen Handelsmetropole ein Exempel statuiert hatte. Johann Gottlob Krüger, Professor für Medizin und Philosophie in Helmstedt, brachte 1756 seine „Gedanken von den Ursachen des Erdbebens“ heraus.
Darin widersprach er Gerüchten, die Einwohner Lissabons seien in Nachthemden durch die Straßen gelaufen. Entsetzliche Szenen wie die einer „gequetschten Mutter“ und ihrer „unbekümmerten Säuglings“ der „aus ihrem erstorbenen Herzen die mit geronnenem Blut vermischte Milch zieht“, waren für ihn Zeichen dafür, dass Gott und nicht der Mensch „der Oberregent der ganzen Welt“ sei und diesem nur blieb, „tugendhafte Handlungen“ zu verrichten.
Mit seinen „moralischen Betrachtungen“ wandte sich Krüger gegen die religionskritischen Thesen vieler Aufklärer. Einer ihrer berühmtesten Vertreter war der französische Philosoph Voltaire, der das Erdbeben von Lissabon umgehend zu einem Angriff auf die christliche Religion nutzte. In seinem „Gedicht über die Katastrophe von Lissabon“ und zweifelte er an einem Gott, der „in Fülle und ganz Übel über sie (seine Kinder) bringt“. Daraus folgerte er, dass das Credo von optimistischen Kollegen wie Gottfried Leibniz, dass die Menschen in der besten aller Welten lebten, nur „Illusion und Hoffnung“ sei.
Der Universalgelehrte Leibniz hatte das Problem der Theodizee, die Frage, warum ein allmächtiger Gott das Böse zulasse, damit zu lösen versucht, indem er die existierende Welt als „beste aller möglichen Welten“ deutete. Dagegen ließ Voltaire in seiner satirischen Novelle „Candide“ den Titelhelden inmitten der Katastrophe von Lissabon durch die Stadt streifen, wo ihm voller Sarkasmus die Antithese einer optimistischen Weltsicht vorgeführt wird.
Wolfgang von Goethe erinnerte sich in „Dichtung und Wahrheit“: „Der Knabe … war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubens-Artikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen.“ Das gab den Takt für eine Debatte vor, die sich bis in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts erstreckt hat.
Die überwiegende Mehrheit der Zeitgenossen widmete sich jedoch der Frage des praktischen Überlebens. Während der portugiesische König Joseph I. es vorzog, bis zu seinem Tod mit seinem Hofstaat in einer riesigen Stadt aus Zelten und Holz vor den Toren zu residieren, gab sein Erster Minister Sebastião José de Carvalho e Melo (ab 1769: Marquês de Pombal) die Parole aus: „Begrabt die Toten und sorgt für die Lebenden.“ Um Epidemien vorzubeugen, wurden die Leichen gegen die Tradition und den Willen der Kirche auf See bestattet verscharrt, die Ruinen geräumt, Straßen passierbar gemacht und Plünderer gejagt und hingerichtet. Dem Wiederaufbau von Lissabon wurde ein Schachbrettmuster zugrunde gelegt.
Das Engagement, mit dem dies alles geschah, stattete Pombal mit einer Autorität aus, mit der er eine umfassende Staatsreform in Angriff nehmen konnte. Um die enormen Mittel für die zahlreichen Projekte zu generieren, wurden die Wirtschaft gefördert, Privilegien abgebaut, die Justiz modernisiert und Bildung und Wissenschaft den Ideen der Aufklärung geöffnet. Zugleich wurde die Macht der alten Adelsgeschlechter gebrochen; ein Attentat auf den König 1758 nahm Pombal zum Anlass, ganze Familie auszulöschen. Kirchlicher Widerstand gegen die Modernisierung führte zur Ausweisung der Jesuiten.
Auch was die Deutung von Erdbeben angeht, setzt Pombal auf Aufklärung. Der Erste Minister hielt die Priester Portugals an, Daten über die Auswirkungen des Bebens zu sammeln. Daraus entstand eine umfangreiche Sammlung von Berichten, die über die Dauer der Erdstöße, ihre Folgen, das Verhalten von Tieren und Anzeichen in Gewässern Aufschluss geben. Es wurde ein Meilenstein der Seismologie.
Schon in seiner Geschichts-Promotion beschäftigte sich Berthold Seewald mit Brückenschlägen zwischen antiker Welt und Neuzeit. Als WELT-Redakteur gehörte die Epoche der Aufklärung zu seinem Arbeitsgebiet.
Source: welt.de