Wien: Ohrfeigen sind möglich

Wie stellt man Angst im Theater dar? Wie bringt man dem Publikum beispielsweise die Bedrohung nahe, in der Homosexuelle im Nationalsozialismus lebten? Die Frage beschäftigte den Wiener Theatermacher Martin Finnland seit Langem. „Mir wurde klar: Obwohl ich selbst schwul bin, kannte ich kein einziges homosexuelles Opfer der Nationalsozialisten.“ Finnland, künstlerischer Leiter, Regisseur und Schauspieler des Theaterensembles Nesterval, begann zu recherchieren. Er wandte sich an das Zentrum für queere Geschichte, genannt QWien, und stellte fest, dass die Datenlage dünn war. Homosexualität blieb bis weit nach Kriegsende ein Tabu. „Selbst Familien, in denen etwa ein schwuler Onkel ins KZ gekommen war, sagten als Begründung lieber: Das war ein Politischer. Oder gleich ein Kommunist. Alles war besser, als schwul zu sein.“


Dorfszene aus dem Stück „Sankt Peter“ der Gruppe Nesterval

Es dauerte noch einige Jahre, bis aus den Recherchen das Stück Die Namenlosen wurde, das 2023 in Wien Premiere hatte. Darin war die Grenze zwischen Zuschauerraum und Bühne komplett aufgehoben. Man nennt das immersives Theater. In einer Halle des ehemaligen Wiener Nordwestbahnhofs irrte das Publikum auf den Spuren Dutzender Protagonistinnen und Protagonisten umher, in einer Atmosphäre der Bedrängung, Verfolgung und Verlorenheit. Unzählige Schauplätze – Gänge, Gassen, Nebenbühnen – gab es, die durch Vorhänge voneinander abgetrennt waren. Jeder Zuschauer erlebte dabei sein eigenes Stück, denn es war völlig unmöglich, den vielen sich überkreuzenden Schicksalen, Intrigen, Handlungssträngen souverän zu folgen. Und genau so war das von den Theatermachern gewollt.

Nun hat Finnland das Stück weiterentwickelt und wird es unter dem Titel Der Rosa Winkel – Die Geschichte der Namenlosen im Brut Wien herausbringen. In den Jahren seit Finnlands ersten Recherchen ist viel passiert: Gesellschaften driften weltweit ins Autoritäre, Populistische, Homophobe ab. Nicht zuletzt auch deshalb, weil immer weniger Zeitzeuginnen und -zeugen früherer Katastrophen leben, braucht es drastische Wege, den Schrecken von damals spürbar zu machen – da hilft das immersive Theater. Plötzlich steht man als Zuschauerin dabei, wenn eine Figur abgeführt wird, dem Tode geweiht ist. Was tut man in einer solchen Situation?

„Meine Figur ist aus drei Biografien zusammengesetzt“, erzählt mir der Schauspieler Christopher Wurmdobler. In einer Szene der Namenlosen wird seine Figur von einem Nazischergen abgeführt. Manchmal stellen sich dann Zuschauer schützend vor ihn. Und auch wenn das bloß symbolisches Handeln sein mag, tut es allen Beteiligten gut.

Nesterval, 2011 in Wien gegründet, nennt sich ein queeres Volkstheater; und Volkstheater bedeutet heute, sich auch auf Computerspiele oder TV-Serien zu beziehen. Schon der Ensemblename ist ein Spiel mit den Erzählformen unserer Zeit. So beruft sich das Theater auf eine Familie, der es angeblich selbst seine Existenz verdankt: „Nesterval ist der Name einer auf die Niederlande zurückgehenden deutsch-österreichischen Familiendynastie, deren Ursprünge sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen lassen.“ So steht es im Netz. Das ist raffinierter Betrug: eine fiktive Saga, die von Nesterval in mehreren Stücken auf der Bühne weitergesponnen wurde und auch in den Namenlosen wieder relevant ist. Dort ist die Firmenkantine der Nestervals ein zentraler Treffpunkt der verfolgten Homosexuellen.

Was soll das eigentlich sein, dieses sagenumwobene immersive Theater? „Meine Definition dafür kommt vom englischen Begriff immersion: Eintauchen“, sagt Martin Finnland. „Es geht darum, Teil einer anderen Welt sein zu können.“ Die Gruppe Nesterval hat sich über die Jahre eine höchst diverse Fangemeinde erspielt, und ihre Stücke sind rasch ausverkauft. Wer einmal bei einem Abend dabei war, wird geradezu süchtig. Man ist mittendrin im Geschehen und muss sich dazu verhalten, immer wieder aufs Neue. Mal spielt der Abend in einer Disco, mal in einem Sanatorium; bisweilen erlebt man Gewalt wie in dem Stück Das Dorf (2018), das auch das Publikum in eine Atmosphäre bedrängender gesellschaftlicher Enge versetzt.

Das geht nahe, oft an die Schmerzgrenze, aber man ist gut aufgehoben. „Es ist unsere Aufgabe, die Leute sicher durch den Abend zu leiten“, sagt Finnland. Wurmdobler ergänzt: „Es ist eine Gratwanderung, aber wir wollen ja, dass die Leute das Theater spüren.“

Einmal hat sogar eine Zuschauerin einem Schauspieler eine Ohrfeige verpasst, weil sie mit dem Verhalten seiner Figur nicht einverstanden war. Oft kommt es zu heftigen Diskussionen über das Schicksal der Figuren, etwa darüber, ob es legitim sei, in gewissen Notsituationen seinem Leben ein Ende zu setzen. Überhaupt ist es ein wichtiges Element der Abende, die Leute ins Gespräch zu bringen. Nach jeder Vorstellung legt das Ensemble Kostüme und Rollen ab und stellt sich den Fragen des Publikums. Hätte ich damals etwas tun können? Was tue ich heute, wenn vor meinen Augen jemand bedroht wird? Der Begriff Zivilcourage wird plötzlich sehr konkret, man kann sie hier gefahrlos erproben und trainieren. Und vielleicht im richtigen Leben eingreifen, wenn es nötig ist.

„Der Rosa Winkel – Die Geschichte der Namenlosen“ wird vom 16. Mai bis zum 18. Juni im brut nordwest in Wien (Nordwestbahnhofstraße 8) gespielt