Wie Volkswagen den Anschluss verlor
Es ist eine Frage, die gerade viele stellen in Deutschland: Wie konnte es bei Volkswagen so weit kommen, wie konnte der Konzern so tief in die Krise rutschen? „Der Fisch stinkt immer vom Kopf her“, donnerte vergangene Woche die IG-Metall-Chefin Christiane Benner auf einer Protestkundgebung vor der Unternehmenszentrale in Wolfsburg in die Menge aufgebrachter Mitarbeiter. In ganz Deutschland legten wieder Zehntausende von ihnen vorübergehend die Arbeit nieder.
Der Zustand von Europas größtem Autobauer ist ernst. Drohende Massenentlassungen, mögliche Fabrikschließungen in Deutschland, angeblich bis zu 17 Milliarden Euro an geplanten Kostensenkungen und ein zähes Ringen um die Zukunft. Am Montag sollen die schwierigen Verhandlungen zwischen Management und Betriebsrat um Tarifvertrag und Standorte in die nächste Runde gehen.
Was also ist schiefgelaufen in Wolfsburg in der Vergangenheit? Wer hat da wann welche Weichen falsch gestellt? Die F.A.S. zeichnet den Weg des Volkswagen-Konzerns in die Krise nach.
Erstes Kapitel: Hybris
An einem Dienstag im September 2024 betritt Martin Winterkorn das Gerichtsgebäude in Braunschweig. Winterkorn, 77, ist ein VW-Riese von gestern. Er hat den Konzern von 2007 bis 2015 geführt. Diktator wurde der herrische und von seinen Untergebenen gefürchtete Automanager genannt. Jetzt ist nichts mehr übrig von seiner Macht. Winterkorn muss sich in dem Strafprozess in Braunschweig für seine Rolle im Skandal um manipulierte Abgaswerte von Dieselautos verantworten. Das Desaster hat VW mehr als 30 Milliarden Euro für Strafen, Schadenersatz und Anwaltshonorare gekostet – Winterkorn kostete „Dieselgate“ damals vor neun Jahren den Job.
Bei dem Gerichtstermin in Braunschweig wird der frühere Automanager von einem Journalisten gefragt, wie er auf sein Lebenswerk zurückblicke. „Wenn ich die vielen schönen Autos sehe, ganz gern“, antwortet Winterkorn. Er ist mit sich im Reinen, soll das wohl heißen. Aber Leute, die VW lange kennen, sagen: In der Ära Winterkorn fing es an, dass der Konzern vom Weg abkam, den Anschluss an die Konkurrenz zu verlieren begann.
Dabei sehen die Zahlen gut aus unter Winterkorn, jedenfalls bis der Dieselskandal über das Unternehmen hereinbricht und es für VW zeitweise um alles geht. Nach seinem Amtsantritt 2007 gibt Winterkorn als Ziel aus, VW solle binnen zehn Jahren zum größten Autohersteller der Welt aufsteigen, vor Toyota aus Japan und General Motors aus den USA. Die schon damals magere Rentabilität will er deutlich verbessern.
Tatsächlich schafft es Volkswagen in der Ära Winterkorn den Umsatz auf rund 200 Milliarden Euro fast zu verdoppeln. In seinem letzten Geschäftsjahr knackt der Konzern erstmals die Marke von zehn Millionen Neuwagen, rund vier Millionen mehr als zu Beginn von Winterkorns Amtszeit. VW hat damit Toyota fast eingeholt. Winterkorn ist ein Spitzenverdiener der deutschen Wirtschaft. 2011 erhält er fast 17 Millionen Euro Jahressalär von Volkswagen.
Heute ist der rapide Verlust von Marktanteilen in China das größte Problem von VW. Zu Winterkorns Zeiten dagegen ist China ein Schlaraffenland. Das VW-Geschäft dort expandiert in manchen Jahren um 25 Prozent. Der Konzern aus Deutschland kontrolliert zeitweise mehr als ein Fünftel des gesamten chinesischen Neuwagenmarkts und verdient dort Jahr um Jahr Milliarden.
Der VW-Chef ist intern als Kontrollfreak berüchtigt, er lässt sich in den Medien als unerbittlicher Qualitätsfanatiker inszenieren, der jedem Blinkerhebel an neuen Fahrzeugmodellen persönlich seinen Segen erteilt. „Im VW-Konzern wächst dort das Gras, wo der Chef hinschaut“, sagt Winterkorn. Er will alles selbst im Blick haben – und bekommt dabei nicht mit, wie sehr sich die Autoindustrie zu verändern beginnt.
Winterkorn und seine Manager wollen China und die Welt mit Verbrennerautos erobern. Aber in China hat die Regierung schon 2009 angefangen, Elektroautos und deren Hersteller systematisch zu fördern. Im selben Jahr bringt ein chinesisches Unternehmen namens Build Your Dreams sein erstes Elektroauto auf den Markt. Heute dominiert BYD den chinesischen Automarkt. 2011 gründet sich die Contemporary Amperex Technology Co. Ltd. (CATL), die binnen weniger Jahre zum größten Batteriehersteller der Welt aufsteigen wird.
Der Architekt und Vordenker von Chinas Aufstieg zur Elektroauto-Weltmacht ist der damalige Wissenschaftsminister Wan Gang. Der Ingenieur hatte viele Jahre lang ausgerechnet im VW-Konzern gearbeitet, als Entwickler in Ingolstadt bei der Tochter Audi, bevor er um die Jahrtausendwende nach China zurückgekehrt ist.
BYD und CATL: Damals sind das aus westlicher Perspektive noch obskure chinesische Industrieunternehmen, deren Namen nur Experten geläufig sind. Ein anderer neuer Wettbewerber macht dagegen auch schon Mitte des vergangenen Jahrzehnts Furore: Tesla. Aber wirklich ernst nehmen die VW-Konzernherren in Wolfsburg auch diesen Konkurrenten nicht.
Im November 2016 gibt Winterkorns Nachfolger an der Konzernspitze, Matthias Müller, der F.A.S. ein Interview, das Bände spricht. Er habe „großen Respekt“ vor Tesla, sagt der VW-Chef gönnerhaft. Sehr mutig seien die Amerikaner. „Mein Problem ist nur: Wollen wir VW ernsthaft mit Tesla vergleichen? Tesla verkauft im Jahr vielleicht 70.000 Autos, wir zehn Millionen.“ Und Batteriezellen kaufe VW „lieber von jemand, der das besser kann“. Eigenes Know-how in dieser Schlüsseltechnologie der Elektromobilität aufzubauen, davon hält der VW-Chef wenig. Müller unterschätzt die Gefahr, die auf sein Unternehmen zurollt.
Zweites Kapitel: Revolution
Ein anderer Manager im Volkswagen-Reich ist da bereits unruhig geworden. Seit dem Sommer 2015 leitet Herbert Diess die Kernmarke VW. Drei Jahre später wird der Österreicher Müller als Konzernchef ablösen. Diess ist einer der ersten Topmanager der deutschen Autoindustrie, der erkennt, wie wichtig Elektroautos werden und wie sehr sie die Vormachtstellung der deutschen Autoindustrie auf den Weltmärkten gefährden. Bei großen Zulieferern im Land wirbt Diess dafür, eigene Batteriezellfabriken zu bauen – erfolglos.
Im eigenen Unternehmen plant der neue Mann an der Spitze eine Revolution. Die Zeit dafür scheint günstig. Der Abgas-Skandal hat VW in den Grundfesten erschüttert, der Konzern braucht einen Neuanfang. Diess ist ein Zertrümmerer von Traditionen. Das elektrische Kompaktmodell, das VW im Jahr 2019 vorstellt, nennt er demonstrativ ID.3 statt Golf. Den seit Jahrzehnten bekannten ikonischen Modellnamen hält er für Ballast aus der Vergangenheit. Tesla kommt schließlich auch ohne Historie aus. Immer wieder Tesla: Diess macht aus seiner Bewunderung für Elon Musk keinen Hehl, er lädt den Tesla-Chef sogar zur Probefahrt im ID.3 nach Braunschweig ein.
Diess will VW zum „softwareorientierten Mobilitätskonzern“ umbauen. Er gründet dafür die zentrale Software-Sparte Cariad. Autos werden in Zukunft rollende Computer sein, sagt der VW-Chef. 60 Prozent seiner Software werde VW künftig selbst schreiben statt bisher nur zehn Prozent. Weil die Zulieferer nicht wollen, bringt Diess außerdem eine eigene Batterizellfertigung auf den Weg. Auf dem „Power Day“ (Tag des Stroms) im März 2021 kündigt VW den Bau von sechs großen Zellfabriken an, was einen zweistelligen Milliardenbetrag kosten wird. Der deutsche Konzern geht damit einen ähnlichen Weg wie der chinesische Herausforderer BYD. Auch der setzt auf vertikale Integration und macht von der Batteriezelle bis zum Auto vieles selbst.
Im Frühjahr 2021 ist Diess im Zenit. Der VW-Aktienkurs hat sich binnen eines Jahres mehr als verdoppelt. Die Börse feiert sein Unternehmen als das neue Tesla. Plötzlich trauen die Anleger Diess zu, VW erfolgreich ins Elektrozeitalter zu führen.
Der Konzernchef spricht davon, den Börsenwert auf 200 Milliarden Euro mehr als zu verdoppeln. Zum Vergleich: Heute ist VW nur noch rund 45 Milliarden Euro wert. Auch wenn man berücksichtigt, dass darin ein Teil der inzwischen börsennotierten Sportwagenmarke Porsche nicht mehr enthalten ist – die Börse glaubt nicht mehr an VW.
Aber damals, vor vier Jahren, ist das noch anders. VW. Gut 40 Milliarden Euro werde der Konzern bis 2025 in Elektroautos investieren, schätzen Analysten damals, doppelt so viel wie der US-Elektroautopionier. Diess lässt den Bau einer neuen Hightech-Fabrik für E-Autos neben dem Stammwerk in Wolfsburg prüfen. Vorbild ist auch hier Tesla und seine Fabrik in Brandenburg.
Aber die Revolution scheitert. Der schwerfällige Konzerntanker ist überfordert vom Tempo des Chefs – und Diess erweist sich als unfähig, seine großen Pläne zu vermitteln und umzusetzen. Die Digitalsparte Cariad entwickelt sich schnell zum Milliardengrab. Weil die Software nicht fertig wird, müssen die Konzernmarken Audi und Porsche wichtige Modellanläufe um Jahre verschieben, ein Debakel. Der Hoffnungsträger ID.3, mit dem VW „den Durchbruch für das Elektroauto einleiten“ wollte, erfüllt die Erwartungen nicht. Er leidet unter technischen Mängeln, die Kunden sind enttäuscht von den billig aussehenden Materialien im Innenraum. An der Börse fällt der Aktienkurs.
Diess will die Kosten kürzen. Schon als VW-Markenchef hat er sich wegen eines Sparprogramms mit dem in Wolfsburg schier allmächtigen Betriebsrat angelegt. Im Herbst 2021 eskaliert der Konflikt, es kursieren Berichte, Diess lasse den Abbau von 30.000 Jobs in Deutschland durchrechnen, jetzt wollen die Arbeitnehmervertreter ihn endgültig loswerden.
Diess entgeht nur um Haaresbreite dem Rauswurf. Er ist angezählt, aber er denkt nicht daran, klein beizugeben. Wer ihn damals trifft, der erlebt einen Manager, der das System Wolfsburg sprengen will. Der Hersteller müsse dringend wettbewerbsfähiger werden, fordert er unbeirrt. Ihn verfolgt eine Erinnerung aus seiner Zeit vor VW. Beim Konkurrenten BMW hat Diess den Niedergang und letztlich die Abwicklung einer großen Autofabrik der britischen Tochter Rover in Birmingham miterlebt. Bei VW will er das um jeden Preis verhindern.
Drittes Kapitel: Crash
Im Juli 2022 ist die Uhr für Herbert Diess abgelaufen, er wird gefeuert. Die VW-Eigentümerfamilien Porsche und Piëch haben endgültig das Vertrauen in ihn verloren, neuer Konzernchef wird Oliver Blume, der bisher schon Porsche geführt hat und nun beide Aufgaben in Personalunion meistern soll. Anders als der Unruhestifter Diess ist Blume ein VW-Veteran, der seit einem Vierteljahrhundert im Konzern arbeitet. Um den Betriebsfrieden wiederherzustellen, sagt Blume rasch zu, ab 2026 in Wolfsburg eine Elektroversion des populären SUV-Modells Tiguan zu bauen.
Aber die Probleme spitzen sich zu. Ein Augenöffner ist die Automesse in Shanghai, die im April 2023 erstmals seit der Covid-Pandemie wieder stattfindet. Die chinesischen Autohersteller haben im Covid-Ausnahmezustand mit Hochdruck weiter an neuen Modellen gearbeitet. Aber weil sich China während der Pandemie fast völlig vom Ausland abgeschottet hat, bekam das die Konkurrenz im Westen nicht richtig mit. Jetzt trumpfen die Hersteller aus Fernost auf – und die Automanager aus Europa staunen in Shanghai, wie gut und schick die E-Autos aus China inzwischen geworden sind.
Zum Messestart kommt die Nachricht, dass VW erstmals seit Jahrzehnten die Marktführerschaft in China verloren hat. Neue Nummer eins ist BYD. Der chinesische Autokonzern hat im ersten Quartal seinen Absatz gegenüber dem Vorjahr um fast 70 Prozent gesteigert – ein Erdrutsch. Blume rückt von der Autarkie-Leitlinie seines Vorgängers ab. Um schneller konkurrenzfähige und digital vernetzte E-Autos anbieten zu können, geht er eine Allianz mit dem chinesischen Auto-Start-up Xpeng ein, in den USA investiert Blume Milliarden in den Newcomer Rivian.
Die Covid-Pandemie hat neben der wachsenden Konkurrenz aus China noch ein anderes Problem verdeckt: Weil wichtige Bauteile knapp waren, konnten während der Pandemie viele Autos nicht ausgeliefert werden. Schlecht für die Kunden, aber gut für die Hersteller, die dadurch vorübergehend höhere Preise durchsetzen konnten. Erst nach dem absehbaren Ende dieses Knappheits-Booms wird deutlich, wie groß die Probleme durch die Überkapazitäten im europäischen Automarkt sind.
Diesen Herbst bricht der VW-Chef mit einem Tabu: Der Konzern schließt betriebsbedingte Kündigungen und Fabrikschließungen in Deutschland nicht mehr aus. Wie zuvor schon Diess geht jetzt auch Blume in die offene Konfrontation mit dem Betriebsrat. „Es kommt kein Scheck mehr aus China“, sagt er im September auf einer Betriebsversammlung. Die Gewinne aus Asien könnten die ertragsschwachen Werke in Deutschland nicht mehr länger durchfüttern. Der Crash ist da.
Analysten rechnen vor, dass sich der VW-Gewinn in China seit 2015 mehr als halbiert habe. Manche glauben, dass der Konzern über kurz oder lang um radikale Schritte nicht umhinkommen wird: ein Rückzug der Kernmarke VW sowohl aus China als auch aus den USA. Martin Winterkorns Traum vom Wolfsburger Weltreich wäre dann Geschichte.