Wie soziale Medien die Riots nachher dem Messerangriff von Southport anstacheln

Das Massaker im schottischen Dunblane im Jahr 1996 und die Reaktion der britischen Öffentlichkeit darauf gelten gemeinhin als Paradebeispiel dafür, wie ein Terroranschlag ein ganzes Land mobilisieren konnte: um schärfere Waffengesetze zu fordern.

Der Amoklauf, bei dem 16 Kinder und ihre Lehrerin getötet wurden, schockte das ganze Land und führte zu einer öffentlichen Debatte, nach der innerhalb weniger Wochen 750.000 Menschen eine Petition unterzeichneten, die eine Gesetzesverschärfung forderte. Innerhalb von eineinhalb Jahren wurde der Besitz von automatischen Handfeuerwaffen durch ein Gesetz verboten und die Vorschriften zum Waffenbesitz reformiert.

Fast 30 Jahre später führte die grausame Gewalttat in einem Tanz-Workshop für Kinder in Southport zu einer gänzlich verschiedenen Reaktion. Eine Reaktion, die in dieser Woche viele Menschen in Großbritannien schockiert hat, aber nach Ansicht von Experten für Rechtsradikalismus – und vor allem von jenen, die sich mit der Schnittstelle von Gewalt und Technologie befassen – nur allzu deprimierend vertraut ist. Vertraut, und im Zeitalter algorithmischer Empörung auf bedrückende Weise unvermeidlich.

Nicht mehr nur die Ränder, die Öffentlichkeit selbst radikalisiert sich jetzt

„Radikalisierung hat es schon immer gegeben, aber in der Vergangenheit konnten Politiker mäßigend einwirken und die Lage wieder beruhigen“, sagte Maria Ressa, die philippinische Journalistin und scharfe Tech-Kritikerin, die 2021 den Friedensnobelpreis bekam. „Das ist heute nicht mehr möglich: Was früher Extremisten und Terroristen radikalisierte, radikalisiert jetzt die Öffentlichkeit. Weil das Informations-Ökosystem so ist, wie es ist.“

Für Ressa war alles an der Gewalt, die auf den Straßen von Southport und dann in Städten im ganzen Land ausbrach, angeheizt durch wilde Gerüchte, Falschmeldungen in den sozialen Medien und einwanderungsfeindliche Rhetorik, zutiefst vertraut. „Propaganda und Gewalt hat es schon immer gegeben. Was die Gewalt in den Mainstream gebracht hat, sind die sozialen Medien. Der Anschlag auf das US-Kapitol am 6. Januar ist das perfekte Beispiel: Die Menschen hätten sich nicht vernetzen können, wenn die sozialen Medien sie nicht zusammengebracht und isoliert hätten, um sie weiter anzustacheln.“

Der größte Unterschied zwischen dem Amoklauf von Dunblane im Jahr 1996 und heute besteht in einer grundlegenden Veränderung der Art und Weise, wie wir kommunizieren. In unserer neuen digitalen Öffentlichkeit, die Nachrichten unmittelbar live transportiert, und die von Algorithmen gesteuert wird, die die krassesten, empörendsten oder emotionalsten Kommentare viral verbreiten, sind die sozialen Medien so konzipiert, dass sie genau das Gegenteil von Mäßigung bewirken: Sie sind ein Motor der Polarisierung.

Die Riots nach Southport erinnern an die Chemnitzer Hetzjagd 2018

„Ich habe das Gefühl, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis so etwas in Großbritannien passieren würde“, sagt Julia Ebner, Leiterin des Violent Extremism Lab am Centre for the Study of Social Cohesion der Universität Oxford. „Das alternative Informations-Ökosystem befeuert diese Narrative. Wir haben das in Deutschland bei den Chemnitzer Krawallen 2018 gesehen, an die mich das stark erinnert hat. Und in den USA mit dem Aufstand vom 6. Januar. Wir beobachten Kettenreaktionen in den Kanälen der extremen Rechten, wo sich Desinformationen rasend schnell verbreiten und Menschen mobilisieren, auf die Straße zu gehen – was die Neigung, Gewalt anzuwenden, verstärkt, weil es diese Wut und Emotionalisierung gibt, die noch verstärkt werden. Und dann von den extrem rechten Kanälen zu X oder zu den Mainstream-Plattformen der sozialen Medien weitergetragen werden.“

Das „alternative Informations-Ökosystem“, von dem Ebner spricht, – zu dem Telegram, Bitchute, Parler und Gab gehören – läuft oft unsichtbar neben den Mainstream-Medien oder sogar der Social-Media-Landschaft. Es erweist sich als Nährboden für rechtsextreme und verschwörungstheoretisch Ideologien, die in dieser Woche aufeinander prallten und die Menschen auf die Straße brachten.

Für Jacob Daveyvom Institute for Strategic Dialogue in London war es „ein perfekter Sturm“, bei dem die aufstrebende extreme Rechte im Vereinigten Königreich, die durch die jüngsten Massendemonstrationen ermutigt wurde, und rechtsextremen Figuren wie Tommy Robinson, der auf X „wieder auftauchten“, zusammenwirkten, während zugleich Maßnahmen zur Eindämmung von Hass-Kriminalität zurückgefahren wurden.

Ausgebrannte Autos bei Riots in Sunderland

Foto: Hollie Adams/reuters/picture alliance

Das Problem ist, dass Akademiker, Forscher und politische Entscheidungsträger das Problem zwar zunehmend verstehen, aber fast nichts dagegen unternommen wird. „Mit jedem Jahr, in dem das Problem nicht behoben wird, in dem keine wirklichen Gesetze gegen soziale Medien erlassen werden, wird es deutlich schlimmer“, sagt Ressa. „Ich erinnere Sie daran, was Juri Andropow sagte. Er sagte, Dezinformatsiya [Desinformation] ist wie Kokain. Wenn man es ein- oder zweimal nimmt, geht es einem gut, aber wenn man es ständig nimmt, wird man süchtig. Man wird ein anderer Mensch.“

Die Politik weiß um die Gefährlichkeit der Polarisierungsmaschinerie – aber nicht, was sie dagegen könnte

Obwohl die britischen Behörden diese Bedrohungen theoretisch verstehen – im Jahr 2021 bezeichnete der Leiter des MI5, Ken McCallum, den Rechtsextremismus als die größte inländische Terrorgefahr für Großbritannien – wurden die grundlegenden technologischen Probleme nicht angegangen. Sieben Jahre, nachdem das FBI und der US-Kongress Ermittlungen zur Nutzung sozialer Medien zum Zwecke der Desinformation durch den russischen Staat eingeleitet haben – Ermittlungen, die von großen Teilen der britischen Medien ignoriert oder ins Lächerliche gezogen wurden – zeigte sich die Daily Mail diese Woche auf ihrem Titelblatt schockiert über ein einzelnes verdächtiges Konto bei X, das möglicherweise in Russland ansässig ist und falsche Informationen verbreitet, obwohl es wahrscheinlich nur ein winziger Teil des Gesamtbildes ausmachte.

Es wird noch kaum anerkannt, dass das, was wir erleben, Teil eines globalen Phänomens ist – wachsender Populismus und Autoritarismus, der durch tiefgreifende strukturelle Veränderungen in der Kommunikation untermauert wird. Ebner zufolge ist auch noch nicht ganz klar, wie groß die Ähnlichkeiten mit dem sind, was sich in anderen Ländern abspielt.

„Der Anstieg rechtsextremer Politik ist weltweit und in verschiedenen Ländern sehr, sehr ähnlich. Keiner anderen Bewegung ist es gelungen, ihre Ideologien auf die gleiche Weise zu verbreiten. Die Rechtsextremen zapfen starke Emotionen an, und zwar in Form von algorithmisch starken Emotionen: Wut, Empörung, Angst, sogar Überraschung. Wir sehen, dass es in der rechtsextremen Szene in vielen verschiedenen Ländern eine Art des kollektiven Lernens gibt.“

Die Frage ist, was der neue britische Premierminister Keir Starmer tun wird. Ebner weist darauf hin, dass es sich bei der Radikalisierungsmaschine, die nach Soutport die Menschen auf die Straßen gebracht und zu einem wütenden Mob geformt hat, nicht mehr nur um dunkle Ecken im Internet geht: Die Radikalisierung macht auch vor Politikern nicht halt, die im Parlament sitzen. „Sie sagen jetzt Dinge, die sie früher nicht gesagt hätten, nutzen Anspielungen und Codes der extremen Rechten und kokettieren mit Verschwörungsmythen, die früher zu rechtsextremen Randbewegungen gehörten.“

Bürgerrechtsgruppen wie Big Brother Watch befürchten, dass einige von Starmers Lösungen -–einschließlich des Plans, Gesichtserkennungssysteme auszubauen – neue technologiegestützte Gefahren mit sich bringen. Ravi Naik von der Anwaltskanzlei AWO, die sich auf Klagen gegen Technologieunternehmen spezialisiert hat, sagt, es gebe viele Schritte, die unternommen werden könnten, wie die Beschränkung oder Kontrolle von Datennutzung oder das Einschreiten der Polizei bei Volksverhetzung. „Aber diese Maßnahmen werden erst im Nachhinein ergriffen“, sagt Naik. „Die Probleme sind zu umfangreich, als dass sie durch das schnelle Durchgreifen eines neuen Premierministers gelöst werden könnten. Es handelt sich um tiefgreifende und tief verwurzelte Fragen der Macht. Und sie lassen sich nicht mitten in einer Krise oder durch Kurzschlussreaktionen lösen. Wir brauchen ein echtes Gespräch über digitale Technologie und die Art, wir sie in Zukunft zum Wohle aller nutzen wollen.“

Carole Cadwalladr ist Autorin für den Observer