Wie schlecht geht es China wirklich?
Sechshunderttausend Renminbi Umsatz hat der Unternehmer nach eigenen Angaben mit seinem Tech-Start-up gemacht. Es sollte eine Art Nachbarschaftsapp werden. Doch rund 75.000 Euro im Jahr reichen auch in Chengdu, Hauptstadt der Provinz Sichuan, nicht, um mit einem Start-up so richtig erfolgreich zu sein. Dann aber erhielt er eine Anfrage von der Stadt, so erzählt er es: Ob er nicht einfach das Hundertfache an Umsatz angeben könne? Also sechzig Millionen Renminbi, rund siebeneinhalb Millionen Euro? Die Stadt war demnach noch auf der Suche nach Wirtschaftswachstum, zur Not erfundenem.
Was der Unternehmer der F.A.Z. vor einigen Wochen berichtete, überrascht kaum jemanden in China. Die Lokalregierungen biegen und brechen, was sie können, um Zielvorgaben zu erreichen. Ohne unabhängige Justiz und Presse ist es unwahrscheinlich, dass sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Wie es der Wirtschaft in dem Riesenreich wirklich geht, weiß deshalb häufig nicht mal Peking selbst.
Aktuell ist die Diskrepanz zwischen den veröffentlichen Zahlen und der Wahrnehmung in der Bevölkerung so groß wie selten zuvor. Offiziell wächst die Wirtschaft um rund fünf Prozent, in vielen Gesprächen braucht es indes nicht lang, bis sich die Menschen über die Wirtschaftslage beschweren. „Es gibt einen bemerkenswerten Unterschied zwischen den makroökonomischen Daten und den mikroökonomischen Wahrnehmungen“, schrieb kürzlich Ren Zeping, ehemaliger Chefökonom des Skandalkonzerns Evergrande, in einem Artikel auf Wechat. „Einige Ministerien und Gemeinden“ berichteten „nur über positive Entwicklungen, was zu einer Verzerrung der makroökonomischen Statistiken über den tatsächlichen Zustand der Wirtschaft beiträgt“. Der Artikel wurde nicht zensiert, er stimmte ein in einen Chor aus Ökonomen, die in den vergangenen Wochen immer offener über die schwache Wirtschaftslage sprachen.
Gesamte Klaviatur der Wirtschaftspolitik
Die Mahnungen der Ökonomen wirkten wie eine Vorbereitung auf das Paket, mit dem Peking Ende September die ganze Welt überraschte. Kurz nachdem die amerikanische Notenbank Fed mit ihrer Zinssenkung den Spielraum für China erweitert hatte, bediente Peking fast die gesamte Klaviatur der Wirtschaftspolitik: Zinssenkungen, Liberalisierungen auf dem kollabierenden Häusermarkt und Direktzahlungen an ärmere Chinesen. Am wichtigsten aber war wohl die deutliche Botschaft an die Parteikader im ganzen Land: Bemüht Euch um die Wirtschaft! Wenn dabei Fehler passieren, die Verantwortlichen in den Lokalregierungen aber guten Willens waren, haben sie keine Strafen zu befürchten, betonte die Führung in Peking. Staatspräsident Xi Jinping machte damit deutlich, dass ihm die Wirtschaftslage doch nicht egal ist, wie es zuletzt bisweilen den Anschein hatte.
Die Kommunikation in die Provinzen ist zentral, weil dort die eigentliche Wirtschaftspolitik passiert. Viele Parteikader sind verunsichert und vermeiden lieber Fehler, als ins Visier von Antikorruptionsjägern zu geraten.
Kurzfristig hat sich die Stimmung damit gedreht. An den Börsen, die seit Jahren vor sich hindümpeln und zuletzt sogar Fünfjahrestiefs verzeichneten, sind plötzlich die Bullen los. Die wichtigsten Indizes gewannen innerhalb von wenig mehr als einer Woche ein Fünftel bis ein Drittel. Das chinesische Internet ist voller Witze, mit dem die vielen Privatanleger sich selbst und ihren plötzlichen Stimmungsumschwung aufs Korn nehmen. Gerade noch schmähten die Behörden Leerverkäufer, die auf fallende Kurse wetteten, als unpatriotisch. Jetzt sind bisweilen die Systeme der Börsen überlastet, weil zu viele Anleger zukaufen wollen. Ein Index chinesischer Immobilienkonzerne verdoppelte sich innerhalb von fünf Tagen fast.
Sehnsucht nach Optimismus
Die Reaktion zeigt, wie politikgetrieben die miese Laune der Anleger war. Sie zeigt gleichzeitig, wie groß die Sehnsucht nach einer Neubelebung des Optimismus ist, der die Volksrepublik in den vergangenen Jahrzehnten auszeichnete.
Welche Bedeutung diese Woche im September langfristig haben wird, darüber gehen die Meinungen noch auseinander. Die Optimisten vergleichen sie mit Mario Draghis „Whatever-it-Takes“-Rede, die vor zwölf Jahren den Euro rettete. Dafür müsste in der Bugwelle der Börseneuphorie auch die Konsumfreude der Bevölkerung zurückkehren, die wohlhabenden Chinesen, die vor Xis Autoritarismus geflohen sind, müssten wieder Vertrauen schöpfen.
Eine Woche wird nicht ausreichen, mahnen die Skeptiker, um Jahre, in denen die Wirtschaft gegenüber der Null-Covid-Politik und der nationalen Sicherheit zurückstecken musste, vergessen zu machen. Zumal es kaum Anzeichen gibt, dass sich an der grundsätzlichen Ausrichtung etwas geändert hatte. Viele meinen, dass nun ein weiteres Paket mit höheren Staatsausgaben folgen müsste, das den Konsum ankurbelt. Die vielen Probleme, die sich auch in offiziellen Zahlen finden, bleiben ohnehin. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch. Nach einer Revision der Methodik, die den offiziellen Wert von knapp 25 auf knapp 15 Prozent drückte, ist die Rate seit Anfang des Jahres schon wieder um vier Prozentpunkte gestiegen. Die nationalen Steuereinnahmen sind bis Ende Juli im Vergleich zum Vorjahr um mehr als fünf Prozent gesunken, stattdessen steigen die atypischen Einnahmen, also etwa Bußgelder, weil die Behörden irgendwie an Geld kommen müssen.
Viele Lokalregierung sind de facto längst insolvent und können ihre Beamten nicht mehr bezahlen. Die Staatsausgaben wirken damit prozyklisch und verschärfen die Nachfrageschwäche. Und immer, wenn die chinesische Zentralbank wieder 20.000 Sparer im ganzen Land befragt, erhält sie niederschmetternde Antworten zu Einkommen, Arbeitsmarkt und Konsumneigung. Die Deflation hat sich festgesetzt. Selbst innerhalb Chinas warnen Ökonomen jetzt recht offen vor einem Japan-Szenario, dass der Volksrepublik Jahrzehnte des Niedrigwachstums und der Deflation drohen.
Stabil sind nur die Ausfuhren
Das Einzige, was bis heute zuverlässig läuft, ist der Export. Im August lagen die Ausfuhren fast neun Prozent über denen des Vorjahres, im Jahresverlauf knapp fünf Prozent. Das liegt an einem schwachen Renminbi, der chinesische Produkte im Ausland günstiger macht. Die Nachfrageschwäche im Inland führt zu einem Überangebot, die Produzentenpreise sind seit knapp zwei Jahren deflationär. Der enorme Wettbewerb treibt zu Innovationen an.
Die Folgen dieses Gebräus sieht man überall auf der Welt, nicht nur die EU versucht, sich vor der Exportflut zu schützen. Aber wohl nirgends sind die Einflüsse so groß wie in Deutschland. Ob in der Stahlindustrie, in der Chinas Export in die Höhe schießt, was Thyssenkrupp das Wasser abgräbt. In der Autoindustrie, wo die Volksrepublik zum Exportweltmeister geworden ist. Chinesische Autohersteller, häufig unterstützt von Lokalregierungen, die mehr an Arbeitsplätzen als an Renditen interessiert sind, treiben sich gegenseitig zu Innovationen und Kostensenkungen an.
Die Marktanteile ausländischer Hersteller erodieren. Oder im Maschinenbau, wo chinesische Hersteller einerseits in vielen Bereichen längst auf Augenhöhe sind und anderseits der Absatz von Industrierobotern einbricht. Auf rund ein Fünftel schätzt der Berater Georg Stieler das Minus im ersten Halbjahr. Die Unternehmen reagieren damit auf die Überkapazitäten und investieren weniger in Fabriken. Statt diese Korrektur aber wirken zu lassen, verschärft die Zentralregierung das Problem eher, weil sie Staatsbanken und Lokalregierungen unter dem Slogan „Produktivkräfte neuer Qualität“ dazu antreibt, Geld in moderne Industrien und Fabriken zu pumpen, ob in Elektroautos, Batterietechnologie, Solarpaneele oder Robotik.
Die Woche im September hat unter Beweis gestellt, dass die Regierung handlungsfähig und zu einer Kurskorrektur fähig ist. Es kommt noch im Politbüro an, wie schlecht die wirtschaftliche Lage ist. Doch in den vergangenen Jahren hat die Regierung viele Strohfeuer gezündet. Immer wieder war die Hoffnung groß, dass es sich um eine Kursänderung handelt, dass die Wirtschaft gegenüber der nationalen Sicherheit wieder an Bedeutung gewinnt. Bisher wurde die Bevölkerung enttäuscht. Die kommenden Wochen werden zeigen, ob es diesmal anders ist.