Wie Italien die Rückkehr zur Kernenergie plant
Italien hat die Kernenergie in zwei Referenden mit großer Mehrheit abgelehnt, 1987 und 2011, jeweils nach den Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima. Das Land setzt vor allem auf Gas, erneuerbare Energie und importierten Atomstrom. Doch im Angesicht der Klima- und Energiekrise wächst das Interesse an einer Rückkehr zur Atomkraft. Die Regierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni befürwortet die Kernenergie, allerdings ist unklar, ob ein weiteres Referendum kommen wird. Nach einer Umfrage im April ist gut die Hälfte der italienischen Bevölkerung für eine Rückkehr zur Atomenergie. Drei Viertel der Befragten seien dagegen, hieß es jedoch in der Untersuchung eines anderen Instituts im Juli.
Ungeachtet dieser Ungewissheit schreitet ein junges Unternehmen mit italienischen Ursprüngen voran. Es heißt Newcleo und hat seit 2021 gut 900 Personen eingestellt und 537 Millionen Euro an Investorengeld eingesammelt. In einer Bergregion an einem künstlichen See eine gute Autostunde südlich von Bologna testet es schon seine Technologie, basierend auf einem kleinen sogenannten bleigekühlten schnellen Reaktor, allerdings in einem ersten Schritt auf nicht-nuklearer Basis. Am weitesten fortgeschritten ist Newcleo auch nicht in Italien, sondern im nuklearen Stammland Frankreich, wohin das Unternehmen inzwischen seinen Hauptsitz verlegt hat. Für den dort geplanten Reaktor hat Newcleo bei Siemens schon eine Turbine bestellt.
2031 soll ein erster Demonstrator fertig sein, 2033 soll die volle Produktion beginnen. Von 2030 an will Newcleo in Frankreich auch die Herstellung des eigenen nuklearen Brennstoffs stehen haben; es handelt sich um Mischoxidbrennstoff (Mox, eine Mischung aus Uranoxid und Plutoniumoxid), das unter anderem aus wiederaufbereitetem abgebranntem Kernbrennstoff besteht. Diesem Konzept gehört aus Sicht von Newcleo die Zukunft, denn es kann Brennstoff aus dem klassischen Nuklearzyklus sehr oft wiederverwenden und hinterlässt am Ende wenige schwächer strahlende Überreste. Diese würden nicht Hunderttausende von Jahren strahlen, sondern nur rund 250 Jahre. „Für Deutschland wäre das eine höchst geeignete Lösung, denn das Land hat viel nuklearen Abfall“, sagt der Newcleo-Vorstandsvorsitzende Stefano Buono im Gespräch mit der F.A.Z.
Atomenergie auf viele Kraftwerke dezentralisieren
Der 59 Jahre alte Physiker arbeitete am Forschungszentrum Cern und war als Gründer in der Nuklearmedizin erfolgreich, bevor er 2021 Newcleo gründete. An seiner Seite steht als Mitgründer der Nuklearphysiker Luciano Cinotti, der drei Jahrzehnte beim italienischen Energieunternehmen Ansaldo arbeitete und als Spezialist für Reaktoren gilt, die mit besonders schnellen Neutronen die Kernspaltung ausführen. Dritte im Bunde ist Elisabeth Rizzotti, eine Physikerin, die aus dem Bank- und Beratungswesen Erfahrung mitbringt. „Für uns ist dieses Abenteuer hier mehr als eine Mission, es ist eine echte professionelle Herausforderung“, sagt Rizzotti.
Newcleo ist eine der inzwischen vielen europäischen, von der EU geförderten Initiativen im Bereich der kleinen Reaktoren. Die Idee dahinter lautet, die Atomenergie auf viele Kraftwerke zu dezentralisieren, um sie beherrschbarer, flexibler und kostengünstiger zu machen. Zur Schlüsselfrage der Kühlung nutzen die Unternehmen verschiedene Technologien: Newcleo setzt auf flüssiges Blei, andere auf Natrium, wieder andere auf flüssiges Salz oder auf Gas. „Ich glaube, dass alle diese Technologien nebeneinander Platz haben werden – für verschiedene Anwendungen. Die Nachfrage nach Nuklearenergie wird riesig sein“, ist Buono überzeugt. Als weniger erfolgversprechend sieht er dagegen Ansätze wie den des amerikanischen Anbieters Nuscale, der im Grunde genommen die klassischen Druckwasserreaktoren auf eine kleine Dimension herunterbricht. Vor einem guten Jahr verlor Nuscale einen wichtigen Kunden in Utah und musste kräftig Personal abbauen.
Bei der bleigekühlten Technologie ist nach Expertenangaben aber auch noch nicht alles geklärt. „Das kommt nicht von heute auf morgen. Ein Startdatum von 2033 halte ich für sehr optimistisch. 2040 wäre wohl realistischer, doch da muss alles gut laufen“, sagt Walter Tromm vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT), in das das ehemalige Kernforschungszentrum Karlsruhe eingegangen ist. Das Problem einer möglichen Korrosion der Stahlteile bei hoher Temperatur sei noch nicht gelöst, meint er. Andere Fachleute warnen auch davor, dass das flüssige Blei bei zu niedriger Temperatur fest werden und damit Schaden verursachen könne. Nuklearfachmann Tromm hält grundsätzlich aber viel von der Blei-Technologie. Sie sorge für hohe Sicherheit, und zusätzlich verringere das Mox-Konzept die Abfälle wesentlich, sagt er. Das KIT unterstützt die Forschung von Newcleo; das italienische Unternehmen streckt zudem seine Fühler zur Technischen Universität München aus. Dort hat die Universität bei den Behörden nach Newcleo-Angaben den Bau eines Forschungsreaktors auf Basis der Newcleo-Technologie beantragt.
Nuwcleo sieht für seine Technologie großen Kostenvorteil
Der Ansatz der Bleikühlung wurde schon während des Kalten Krieges in Russland in zehn U-Booten und fünf Reaktoren eingesetzt. „Derzeit arbeitet Russland an einem neuen Reaktor, der 2027 oder 2028 in Betrieb gehen könnte“, berichtet Buono. Die Russen testen dabei höhere Temperaturen als im Westen, was die Effizienz steigern könnte. Doch derzeit findet kein Wissensaustausch statt, sodass von dort keine Anstöße zu erwarten sind.
Newcleo sieht für seine Technologie einen großen Kostenvorteil: Das Unternehmen glaubt, dass der Strom aus seinen Reaktoren in Zukunft für 60 Euro je Megawattstunde angeboten werden könnte. Zum Vergleich: In Deutschland liegt der Preis derzeit bei über 200 Euro. Die Installationskosten für einen Reaktor mit einer Kapazität von 200 Megawatt schätzt Newcleo auf nur 800 Millionen Euro. Die Nuklearindustrie ist bekannt für ihre notorischen Kostenunterschätzungen und ihre Überschreitungen der Zeitplanung. Oft hängt das an den langen Genehmigungsphasen. Etliche Beobachter meinen, dass nur große Unternehmen diese Fristen durchhalten können.
In Italien entsteht derzeit ein Nuklearunternehmen, zu dem die großen Energieunternehmen Enel und Ansaldo sowie der Rüstungs- und Elektronikkonzern Leonardo gehören sollen. Ansaldo arbeitet auch an einem eigenen bleigekühltem Konzept, unter anderem in Rumänien. Newcleo-Chef Buono hätte nichts gegen eine Zusammenarbeit. „Wir würden uns freuen, wenn wir einen neuen Kunden fänden. Wir würden auch in den Aktionärskreis eintreten. Derzeit warten wir auf die Entscheidungen der Politik“, sagt er. Die Newcleo-Technologie sei weiter fortgeschritten als die von Ansaldo, fügt er hinzu.
In den Turiner Räumen des Unternehmens fällt auf, wie viele junge Leute vor den Bildschirmen sitzen, oft sind sie unter dreißig. Wie steht es um die nukleare Akzeptanz im Freundeskreis, wenn sie von ihrem Arbeitgeber erzählen? Das sei eine sehr deutsche Frage, findet ein junger Mann aus Frankreich. Er stoße nicht auf Ablehnung. „Wenn man die Hintergründe erklärt, wächst das Verständnis“, berichtet ein italienischer Kollege. Italien hat viel getan, um sein nukleares Know-how nach dem Nuklearausstieg zu erhalten. Eine Handvoll Universitäten bildet weiterhin Kernphysiker aus. „Die sind wirklich am Ball geblieben. Daher haben wir schon öfter überlegt, wie wir Doktoranden aus Italien nach Deutschland locken können“, sagt der Karlsruher Nuklearfachmann Tromm.