Wie Europa seine eigene Verteidigung finanzieren könnte

Alle sind sich einig, dass Europa sich selbst verteidigen können muss. Ausschließlich auf dem eigenen Kontinent einzukaufen, ist illusorisch, denn in der Rüstungsindustrie klaffen Lücken. Unklar ist auch die Finanzierung. Schon stehen wieder neue EU-Schulden und die Schuldenbremse zur Diskussion.

Sie trafen sich vor wenigen Tagen im Élysée-Palast, ganz informell. Acht Männer und drei Frauen an einem runden Tisch mit Kaffee und Gebäck. Ein solch kleiner Kreis, hofften sie, würde schneller Antworten auf die aktuelle Krise finden als ein großer Gipfel der EU oder Nato. Das Gespräch in der Residenz des französischen Präsidenten Emmanuel Macron drehte sich um die Sicherheit Europas. Zwei wichtige Fragen an jenem frühen Abend lauteten: Wie kann sich der Kontinent besser verteidigen – und woher soll das Geld dafür kommen?

Der deutsche Kanzler Olaf Scholz und der britische Premier Keir Starmer waren dabei, zudem ihre Amtskollegen aus Italien, Polen, Spanien, Dänemark und den Niederlanden sowie die Spitzen von EU und Nato. Alle sprachen sich für höhere Militärbudgets aus. Denn es herrschen Zweifel, ob Amerika unter Präsident Donald Trump dem alten Verbündeten Europa im Fall eines Kriegs zu Hilfe eilen würde.

Laut einer Analyse der Brüsseler Denkfabrik Bruegel und des Kiel Instituts für Weltwirtschaft sind zusätzlich 250 Milliarden Euro jährlich erforderlich, damit sich die EU ohne Unterstützung der USA gegen Russland verteidigen könnte. 50 Brigaden mit 300.000 Soldaten und 3400 neuen Panzern müssten aufgestellt werden, was die aktuellen Bestände der deutschen, französischen, italienischen und britischen Streitkräfte übersteige.

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Der Kontinent, da sind sich alle einig, muss aufrüsten. Und irgendwie das Geld dafür auftreiben. Der polnische Finanzminister Andrzej Domański schlägt eine Änderung der EU-Schuldenregeln vor. Er will erhöhte Ausgaben für das Militär nicht in die Berechnung von Defiziten einbeziehen. „Man sollte den Regierungen erlauben, in Panzer, Jets und Munition zu investieren, ohne gegen fiskalische Vorschriften zu verstoßen“, sagt Domański WELT AM SONNTAG. „Eine schnelle Stärkung der europäischen Rüstungsindustrie ist notwendig – zuerst, um uns verteidigen zu können, aber auch, um unser Wachstum zu fördern.“

Polen hat gerade die EU-Ratspräsidentschaft inne, leitet damit wichtige Sitzungen und nimmt großen Einfluss auf die politische Agenda. Bundeskanzler Scholz signalisierte Unterstützung für eine Änderung der europäischen Schuldenregeln. Er will Ausnahmen aber nur für Staaten zulassen, die schon jetzt mehr als zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgeben, so wie es das Nato-Ziel vorsieht.

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Minister Domański fordert auch ein neues europäisches Instrument. „Wir müssen einen Finanzierungsmechanismus aufbauen, der es den Staaten ermöglicht, die Produktion und Beschaffung von Waffen gemeinsam zu stemmen“, sagt er. Warschau arbeite an Vorschlägen. Bisher war der gemeinsame Kauf von Rüstung eine Ausnahme in der EU. Die Verstetigung dieses Verfahrens würde ein Umdenken markieren und die Gemeinschaft transformieren: von einem Markt und einer Freihandelszone zu einer militärischen Union.

Gemeinsame Schulden gefordert

Manchen EU-Staaten gehen die Ideen noch nicht weit genug. Frankreich, Spanien, Italien und Griechenland fordern Eurobonds. Die EU, so ihr Plan, soll gemeinsam Schulden aufnehmen, um Waffen und Munition zu kaufen. Für Deutschland ist das bisher ein Unding. Sowohl Scholz als auch Kanzlerkandidat Friedrich Merz sind gegen die Ausgabe europäischer Staatsanleihen.

Ein Vorbild dafür gibt es aber schon: den 800 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds der EU. Er wurde im Sommer 2020 beschlossen und sollte die Folgen der Corona-Pandemie lindern. Der Topf galt als historisch, für ihn verschuldete sich Europa zum ersten Mal in großem Umfang. Mittlerweile ebbte die Euphorie ab, denn in den Jahren 2022 und 2023 stiegen die Zinsen und machten das Unterfangen viel teurer als geplant. Berlin will verhindern, dass sich so etwas wiederholt.

Doch es geht nicht nur darum, woher das Geld für Europas Verteidigung kommt – sondern auch, wohin es fließt. Wolle der Kontinent wirklich unabhängig werden, sagt Frankreichs Präsident Macron immer wieder, dürfe nur auf dem heimischen Markt gekauft werden. Bloß ist das kaum möglich. Viele Waffen gibt es hier nicht. Zum Beispiel Hubschrauber für schwere Lasten und Flugzeuge zur Seeaufklärung und U-Boot-Jagd. Deshalb bestellt die Bundeswehr sie beim US-Konzern Boeing.

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Auch der Ersatz für den veralteten Tornado kommt aus den USA. Deutschland orderte 35 Kampfflugzeuge des Typs F-35 von Lockheed Martin. Denn nur sie sind für den Abwurf amerikanischer Atombomben zugelassen – ein wichtiger Baustein der europäischen Abschreckung. Ein neuer europäischer Jet wird gerade von Airbus und Dassault entwickelt, dürfte aber erst 2040 einsatzbereit sein, vielleicht sogar 2050.

Praktisch blank ist Europa in der Luftverteidigung. Derzeit können nur US-Satelliten Raketenangriffe auf das Gebiet der Nato erkennen. Zudem liefert Amerika das Patriot-System zur Abwehr von Flugzeugen und Drohnen. Und aus Israel kommt die Arrow 3, die Interkontinentalraketen im Weltraum zerstören soll. Die EU-Mitglieder haben nichts Vergleichbares.

„Die Bundeswehr und die meisten anderen europäischen Armeen müssen schneller und stärker wachsen und ausgestattet werden, als dies bislang geplant war“, sagt Armin Papperger, Chef des Rüstungskonzerns Rheinmetall, WELT AM SONNTAG. In Deutschland bestünden große Lücken bei Schützenpanzern, militärischen Lastwagen, Fahrzeugen zur Räumung von Minen, Munition und der Artillerie.

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Dennoch sieht es am Boden ganz gut aus für die EU. Deutsche Panzerhersteller wie Rheinmetall oder KNDS, hervorgegangen aus Krauss-Maffei Wegmann und Nexter, gehören zur Weltspitze, ebenso Lieferanten wie Renk oder Hensoldt. Hier ist die Situation umgekehrt: Die Unternehmen hoffen auf Milliardenaufträge vom Pentagon und beliefern oft das US-Heer.

Wie geht es nun weiter? Die EU-Kommission möchte Mitte März darlegen, wie die europäische Verteidigung finanziert werden könnte. Dabei soll es nicht nur um neue Klauseln in den Schuldenregeln gehen. Brüssel diskutiert auch über zusätzliche Mittel aus anderen Quellen, wie man hört – etwa aus dem Wiederaufbaufonds. Am Ende der Frist im Jahr 2026, heißt es, dürften 90 bis 100 Milliarden Euro übrig bleiben. Das Geld, das Europa einst aus der Corona-Krise helfen sollte, wird bald vielleicht fürs Militär eingesetzt. Vorausgesetzt, die Umwidmung ist rechtlich möglich.

Eine weitere Idee ist, dass die Europäische Investitionsbank (EIB) die Beschaffung von Waffen finanziert. Eine Mehrheit der EU-Staaten ist dafür, auch Deutschland. Aber die Statuten der Bank mit Sitz in Luxemburg erlauben nur Unterstützung für Dual-Use-Güter – also Produkte, die zivil und militärisch genutzt werden können, etwa Satelliten oder Drohnen. Die EIB versteht sich als „Klimabank“, finanziert viele saubere Technologien. Die Wende zur „Rüstungsbank“ wäre radikal, deshalb schrecken viele Politiker davor zurück.

In den kommenden Monaten dürfte es auch wieder um eine Regel gehen, die manche Verbündete nervt: die deutsche Schuldenbremse. Sie müsste ausgesetzt werden, falls die nächste Regierung feststellt, dass die Landesverteidigung nicht aus den laufenden Einnahmen finanziert werden kann. Das ginge nur, wenn der Bundestag eine „außergewöhnliche Notsituation“ feststellt, die „sich der Kontrolle des Staates“ entzieht und „die staatliche Finanzlage erheblich“ beeinträchtigt.

Für den polnischen Finanzminister Domański ist klar, dass Europa all die Hürden irgendwie überwinden muss. „Wir sind eine Familie der reichsten Länder des Planeten, mit einer Wirtschaftskraft, die viel höher ist als jene Russlands“, sagt er. „Wir müssen imstande sein, die Sicherheit unserer Menschen zu finanzieren.“ Sollte Europa das nicht schaffen, meint Domański, wäre es das ultimative Scheitern der Demokratie.

Stefan Beutelsbacher, Gerhard Hegmann und Karsten Seibel berichten über Haushalts- und Wirtschaftspolitik sowie über Rüstung.

Source: welt.de