Wie einst die neue Ostpolitik: Es bedarf einer neuen deutschen Nahostpolitik
Israel wird geradezu angefleht, sich in seiner Kriegsführung zu mäßigen. Ohne Erfolg. Helfen könnten da nur wirksame Schritte Berlins zur Gründung eines palästinensischen Staats
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Neunmal ist Annalena Baerbock im zurückliegenden Jahr bei Nahost-Reisen in Jerusalem vorstellig geworden. Erreicht hat sie nichts. Warum ist der Ertrag ihrer diplomatischen Missionen nicht messbar und eher peinlich? Das handwerkliche Unvermögen einer Ministerin, die verlässlich wiederkehrende Wortstanzen selten unfallfrei aufsagt, kann es kaum sein. Israel gilt neben den USA und der Ukraine als Deutschlands engster Verbündeter, wenn nicht als Freund. Und winkt doch kategorisch ab, wenn eine Waffenruhe in Gaza und humanitäre Rücksichten erbeten werden.
Sicher, die Netanjahu-Regierung folgt unbeirrt ihrer verstiegenen und selbstmörderischen Agenda, jeden Widerstand gegen eine territoriale Expansion auszulöschen und einen palästinensischen Staat ein für alle Mal auszuschließen. Das mag der entscheidende, aber es kann nicht der alleinige Grund dafür sein, dass man Außenministerin Baerbock so ostentativ an sich abtropfen lässt. Offenkundig hat die deutsche Nahost-Politik zu wenig im Köcher, damit die israelischen Gegenüber wenigstens aufmerken, statt müde zu lächeln. Eine Inventur wäre überfällig, um Positionen und Praktiken zu korrigieren, denen eine Mitverantwortung für die seit einem Jahr ausufernde Gewalt in Gaza und nun im Libanon zufällt.
Um einen Vergleich zu bemühen und zu zeigen, was mit einem erneuerten diplomatischen Portfolio machbar ist: Als der Kanzler Willy Brandt vor einem halben Jahrhundert zu der Einsicht kam, es sei nicht mehr zeitgemäß, in den ARD-Abendnachrichten Deutschland in den Grenzen von 1937 abzubilden und Nachkriegsrealitäten beharrlich zu ignorieren, stand plötzlich ein anachronistisches Weltbild auf dem Index. Wir sind bereit, die europäischen Grenzen vorbehaltlos anzuerkennen, bekam die Regierung in Moskau als Ausweis einer neuen Ostpolitik zu hören. Was dort die Überzeugung reifen ließ, darauf eingehen zu können und reagieren zu müssen, um eine historische Chance zu wahren. Das Resultat war Anfang der 1970er-Jahre ein Vertragswerk, das neben der UdSSR Polen, die Tschechoslowakei und die DDR einschloss, einen allgemeinen Gewaltverzicht verankerte und der Koexistenz von Systemen wie Staaten – oder schlicht dem Frieden – diente.
Die Regierung Scholz wäre bei Willy Brandt, hätte sie den Mut zu einer ähnlichen Zäsur, um die Absurdität einer Zwei-Staaten-Lösung zu überwinden, die zur Floskel ohne Wert verkommen ist. Warum nicht einen palästinensischen Staat voranbringen, indem man ihn gründen hilft und das nächste Massensterben in Gaza oder der Westbank zu verhindern sucht? Das hieße nichts anderes, als Realitäten Rechnung zu tragen.
Von der Täuschung zur Tat
Ein erster Schritt könnte darin bestehen, dass Deutschland wie Spanien, Irland und Slowenien einen Staat Palästina auf EU-Ebene anerkennt und andere EU-Mitglieder dazu aufruft, sich anzuschließen. In der Konsequenz wäre die palästinensische Mission in Berlin in den Rang einer Botschaft erhoben, verbunden mit allen Rechten, wie sie einer solchen Einrichtung nach dem Wiener Abkommen von 1961 zustehen. Nachdem die aktuelle UN-Vollversammlung den Staat Palästina vom Beobachter zum Mitglied heraufgestuft hat, könnte sich Deutschland für dessen reguläres Stimmrecht einsetzen, das durch ein US-Veto im Sicherheitsrat blockiert ist. Die Zwei-Staaten-Lösung nicht als Täuschung, sondern als Tat.
Es mag sein, dass ein solcher Schwenk Benjamin Netanjahu kalt lässt. Doch wird es irgendwann Nachfolger geben, denen es nicht gleichgültig sein kann, wenn Deutschland seine unbedingte und unterwürfige Loyalität gegenüber Israel aufgibt. Ein Zeichen gerade jetzt wäre gesetzt, würden schwer verletzte palästinensische und libanesische Kinder in deutschen Krankenhäusern versorgt, um ihre Schmerzen zu lindern und ihr Überleben zu sichern. Wäre Israel durch einen solchen Akt der Humanität unzumutbar brüskiert und die deutsche Staatsräson in Gefahr? Hat diese Hilfe deshalb zu unterbleiben? Oder geht auch von Kindern Terrorgefahr aus – so gelähmt, wie sie sind, so verbrannt und verstümmelt?