Wie die Freie Demokratische Partei im Haushaltsstreit verschmelzen Kanzler stürzte
Aus Sicht der Zeitgenossen war die Lage ernst, sehr ernst sogar. Nach Jahren des Wachstums war die Konjunktur zum ersten Mal eingebrochen, die Inflationsrate angestiegen, und die hohen Lohnforderungen versprachen weiteren Preisauftrieb. Trotz verbreiteten Arbeitskräftemangels, der nur durch forcierte Einwanderung zu beheben war, zeigten sich erste Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Schwierige Landtagswahlen standen an, in denen eine nationalsozialistische Nachfolgepartei schließlich ungeahnte Wahlerfolge erzielte.
Noch dazu sahen es die Vereinigten Staaten von Amerika nicht mehr ein, für ein uneiniges Europa die Verteidigungslasten zu tragen, und verlangten mehr Geld von der Bundesrepublik. Kurzum: Die Verhandlungen über den Bundeshaushalt für das kommende Jahr gestalteten sich äußerst schwierig, und sie führten am Ende zu einem Ergebnis, mit dem anfangs niemand gerechnet hatte. Die FDP zog ihre Minister aus dem Kabinett zurück und führte damit den Sturz des Bundeskanzlers herbei.
Die Rede ist erstaunlicherweise nicht von den heißen Berliner Tagen Ende Juni 2024, sondern von einem unerquicklichen Bonner Herbst des Jahres 1966, vor 58 Jahren also. Die Zahl der Arbeitslosen, die im Frühjahr noch bei bescheidenen 100.000 gelegen hatte, war im Oktober auf 150.000 emporgeschnellt; im Folgejahr erreichte sie die kaum vorstellbare Höhe von 460.000. Die Inflationsrate betrug zuletzt 4,5 Prozent, die Bundesbank hatte den Leitzins auf 5 Prozent erhöht. Im Bundeshaushalt klaffte eine Deckungslücke von 4 Milliarden D-Mark.
Desinteresse an reiner Machtpolitik
Im Nachhinein erscheinen diese Zahlen harmlos. Die handelnden Politiker mussten sie seinerzeit erschrecken. „Die erste ernsthafte Rezession von 1966/67 bedeutete trotz ihrer Kurzlebigkeit eine Zäsur, die das mit unverhohlener Euphorie begleitete Wachstum unterbrach“, schrieb der Historiker Hans-Ulrich Wehler. „Erstmals erlebte die Industrieproduktion einen Rückgang. Das Bruttosozialprodukt verzeichnete nicht das gewohnte Wachstum. Der Anstieg der Investitionsrate brach ebenso wie die Zuwachsrate des Kapitalstocks ab.“ Für Auslandsreisen gaben die Deutschen indes, wie Wehler anmerkte, schon damals so viel aus wie niemand sonst auf der Welt.
Oft wird in diesen Tagen über einen Bruch der heute regierenden Ampelkoalition spekuliert, womöglich provoziert von der FDP, die Wünsche der Koalitionspartner nach höheren Steuern oder Schulden zurückweist. Als historische Parallele gilt dann schnell der freidemokratische Koalitionswechsel, der 1982 zur Ablösung Helmut Schmidts durch Helmut Kohl führte und von einem Papier des damaligen Wirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff flankiert wurde (siehe Seite 18). Aber deutlicher noch sind ironischerweise die Parallelen zum Sturz des CDU-Kanzlers Ludwig Erhard, auf dessen wirtschaftspolitische Lehren sich auch und gerade FDP-Politiker so gerne berufen. Es war damals ausgerechnet Erhard, der das Loch im Bundeshaushalt auch durch höhere Steuern schließen wollte. Und es war die FDP, die ihn zu Fall brachte.
Ähnlich wie Scholz war Erhard als Erbe einer übermächtigen Führungsfigur angetreten. War es im einen Fall die 16 Jahre lang amtierende Angela Merkel, so handelte es sich im anderen Fall um den 14 Jahre lang waltenden Konrad Adenauer, der nach dem Urteil der Zeitgenossen einen beträchtlichen Reformstau hinterließ. Der Unterschied bestand allenfalls darin, dass Merkel offenkundig einen eher wohlwollenden Blick auf ihren Nachfolger pflegt, während Adenauer seinem langjährigen Wirtschaftsminister das Amt des Bundeskanzlers nicht zutraute, womit er in gewisser Weise sogar recht hatte. Mit seinem Desinteresse an reiner Machtpolitik brüstete sich Erhard später sogar selbst – für das Amt des obersten Machthabers nicht gerade eine ideale Voraussetzung.
Herbeiführung einer Eskalation
Dabei nahmen beide Regierungszeiten einen eher optimistischen Anfang. Während die Vorgänger Adenauer und Merkel die politische Zukunft äußerst trübe sahen und den Deutschen zutiefst misstrauten, verbreiteten Erhard und Scholz zu Beginn ihrer Regierungszeit große Zuversicht. Beide konnten respektable Ergebnisse vorweisen. Erhard, der 1963 während der laufenden Legislaturperiode ins Amt gekommen war, erzielte bei seiner Wiederwahl 1965 mit 47,6 Prozent das viertbeste Unionsergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik. Scholz seinerseits überbot mit seinen 25,7 Prozent im Jahr 2021 die Monate zuvor gemessenen Umfragewerte immerhin um zehn Punkte.
Eine Gemeinsamkeit besteht allerdings auch darin, dass die Freude über die beiden Wahlerfolge nicht lange vorhielt. Schon die Koalitionsverhandlungen mit der FDP gestalteten sich in beiden Fällen zäh. Und während der russische Präsident Wladimir Putin nur drei Monate nach der Amtsübernahme durch Scholz die benachbarte Ukraine überfallen ließ, zeigten sich im Jahr nach Erhards Wiederwahl die Anzeichen der ersten Rezession nach den Jahren des Wirtschaftswunders.
In beiden Fällen kommen außenpolitische Kalamitäten hinzu, die mit der Ost- und Nahostpolitik zusammenhängen. Für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel nahm Erhard deren Abbruch durch zahlreiche arabische Staaten in Kauf, in gewisser Weise machte er das Bekenntnis zum jüdischen Staat damit zur deutschen Staatsräson. Und indem er das erste Passierscheinabkommen zwischen dem Westberliner Senat und der DDR billigte, weichte er die zuvor gültige Doktrin der Nichtanerkennung stillschweigend auf. Freilich stand die Ostpolitik damals unter umgekehrten Vorzeichen als heute: Während in den Sechzigerjahren nach Mauerbau und Kubakrise eine gewisse Stabilisierung eingetreten war, hat Putins Angriffskrieg nun ganz im Gegenteil eine Eskalation herbeigeführt.
„Offset-Zahlungen“
In der Frage, wie der Herausforderung aus dem Osten zu begegnen sei, standen sich freilich damals wie heute die europäische und transatlantische Option gegenüber – und beide Kanzler entschlossen sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit für den Schulterschluss mit den Vereinigten Staaten. Fast schon grotesk mag erscheinen, dass sich die französische Seite in beiden Fällen gewissermaßen selbst aus dem Spiel nahm. Emmanuel Macron untergrub mit der überraschenden Neuwahl-Ankündigung die innenpolitische Basis seiner internationalen Politik; Charles de Gaulle schwächte mit dem Ausscheiden aus der militärischen Integration in der Nato seine Position im westlichen Bündnis.
Schon damals zeigten sich die Vereinigten Staaten nicht bereit, das Scheitern der europäischen Verteidigungsambitionen gewissermaßen zum Nulltarif zu kompensieren. Ende September 1966, kurz vor den abschließenden Beratungen über den Haushalt für 1967, flog Erhard nach Washington. Zu seiner großen Enttäuschung war Präsident Lyndon B. Johnson, der 1963 auf den ermordeten John F. Kennedy gefolgt war, nicht zu Konzessionen bereit: Er bestand auf die „Offset-Zahlungen“, zu denen sich die Bundesrepublik im Gegenzug zur Stationierung amerikanischer Truppen verpflichtet hatte.
Das Thema habe für Erhard „nachgerade existenzielle Bedeutung“ gehabt, urteilt der Historiker Heinrich August Winkler: „Er brauchte ein Entgegenkommen der USA, weil er anderenfalls keine Chance sah, einen ausgeglichenen Haushalt für 1967 vorzulegen.“
NPD-Erfolge bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern
In gewisser Weise zeigt sich darin eine Parallele zu jener bis heute umstrittenen Vereinbarung, mit der in Deutschland die drei aktuellen Koalitionspartner vorigen Dezember ihren quälenden Haushaltsstreit beilegten. Sie ließen die Tür für eine abermalige Ausnahme von der Schuldenbremse einen Spalt breit offen – und zwar exakt für den Fall, dass die Vereinigten Staaten ihre finanzielle oder militärische Unterstützung für die europäische Sicherheit in Form der Ukrainehilfen entweder stark verringern oder ganz einstellen könnten. So weit ist es (noch) nicht, weil der Kongress im Frühjahr neue Hilfen bewilligte und die Präsidentenwahl erst in vier Monaten stattfindet. Aber das Potential, den Haushaltsstreit weiter zu verschärfen, hatte und hat die Verquickung von äußerer Sicherheit und inneren Etatproblemen damals wie heute.
Im Herbst 1966 entschloss sich der damalige FDP-Vorsitzende und Vizekanzler Erich Mende zum Bruch. Am 26. Oktober einigten sich die Koalitionspartner zwar noch auf ein Kompromisspapier, wie Erhard in seinen Erinnerungen an die Kanzlerzeit betont, die sein früherer Pressereferent Hans Klein in den Siebzigerjahren für ihn aufschrieb und die erst dieser Tage postum im Econ-Verlag erschienen sind. Von möglichen Ausgabenkürzungen war dort die Rede und von Einnahmeverbesserungen durch den Abbau von Steuervergünstigungen. Es folgte der Hinweis, „dass, erst wenn diese beiden Maßnahmen zur Schließung verbleibender Lücken nicht ausreichen, Steuererhöhungen in Betracht gezogen werden müssen“.
Das half dem Kanzler allerdings auch nicht mehr. Tags darauf zog die FDP ihre Minister aus der Bundesregierung zurück, damals noch in der Hoffnung, möglicherweise ein neues Regierungsbündnis mit der oppositionellen SPD eingehen zu können. Bei der neuen Härte in der Steuerfrage spielte auch dass Argument eine Rolle, dass die FDP den Dauerkanzler Adenauer trotz gegenteiliger Wahlkampfparolen 1961 noch einmal für zwei Jahre wiedergewählt hatte und seither als Umfallerpartei galt. Hinzu kam der geschwundene Rückhalt für Erhard in der eigenen Partei; auf klassische Machtpolitik verstand sich der Wirtschaftsexperte wie geschildert auch nach eigenem Bekunden schlecht. So kam es – auch beschleunigt durch die NPD-Erfolge bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern – zur Bildung der ersten großen Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik. Am 1. Dezember wählten Union und SPD den Schwaben Kurt Georg Kiesinger zum dritten Kanzler der Bundesrepublik, Erhards Regierungszeit blieb ein Zwischenspiel.
Später hielt der gestürzte Kanzler dem untreuen Partner vor, „dass die FDP immer dann eine Änderung ihrer Koalitionsbindungen erwägt, wenn ihr entsprechende Wahlergebnisse dies nahezulegen schienen“, wie er schrieb. „Auf dem Gipfel der Koalitionsauseinandersetzungen um den Ausgleich des Bundeshaushalts 1967 erklärte sogar mein damaliger Vizekanzler, FDP-Bundesvorsitzender Erich Mende, die grundsätzliche Bereitschaft seiner Partei, auch mit den Sozialdemokraten eine Koalition einzugehen.“
Das echauffierte den gestürzten Kanzler im Nachhinein umso mehr, als die Liberalen von 1969 an im Bündnis mit der SPD ein hohes Maß an steuerpolitischer Flexibilität an den Tag legten. „Um den jetzigen Schuldenberg abzutragen, gaben sich die FDP-Minister der Regierung Schmidt mit winzigsten Einsparungen zufrieden und stimmten unbefangen bedeutenden Steuererhöhungen zu“, kritisierte er. „Die Deckungslücke des Bundeshaushalts 1967 dagegen betrug knapp fünf Prozent von dem, womit wir es heute zu tun haben. Der Ausgleich wäre mit winzigen Einsparungen und notfalls leichten Anhebungen der Steuern für Tabakwaren und Alkohol zu erzielen gewesen.“
Damals, in den Siebzigerjahren, war das Ende des Nachkriegsbooms längst zu einer neuen Normalität geworden. In die Zukunft schauen konnten die Regierenden freilich so wenig wie heute.