Wie Bürokratie entsteht: 7,5 Minuten Beratungsgespräch zu Gunsten von zusammenführen Ameisenköder
Es ist idyllisch in Emmerthal im Weserbergland, wo das Familienunternehmen Neudorff Schneckenkorn und Ameisenköder, Düngemittel, Nützlinge oder Nisthilfen herstellt. Das Geschäft mit Hobbygärtnern läuft gut. Im vorigen Jahr brachte die Schneckenplage Neudorff einen Rekordumsatz ein, denn bei Schneckenkorn hat das Unternehmen einen Marktanteil von 65 Prozent. Die Schattenseite dieses Geschäfts ist überbordende Reglementierung. Über „Bürokratie, die an Wahnsinn grenzt“, klagt Richard von Hermann, Vertriebsgeschäftsführer von Neudorff im Gespräch mit der F.A.Z. So klein das Feld ist, das hier beackert wird, so deutlich wird bei näherem Hinsehen exemplarisch, wie manche gut gemeinte Regel zu unverhältnismäßigen Nebenwirkungen führt.
Der neueste Aufreger, der auch Verbraucher zum Fluchen bringt, ist die Biozid-Verordnung, die seit Januar 2025 den Kauf von Ameisenködern, Rattengift oder Wespenabwehrmitteln zu einem Hürdenlauf macht. Auch Holzschutzmittel oder Schutz gegen Algen sind Gegenstand dieser Verordnung, die im Juristendeutsch mit ChemBiozidDV abgekürzt wird. Wenn mit dem Temperaturanstieg im Frühjahr der Bedarf nach Schädlingsbekämpfung steigt, werden die Verbraucher verblüfft feststellen: Selbstbedienung ist für solche Produkte jetzt nicht mehr erlaubt. Stattdessen muss eine Person mit Sachkundenachweis ein „Abgabegespräch“ mit den Kunden führen. „Völliger Schwachsinn“, urteilt der Neudorff-Geschäftsführer vor allem mit Blick auf Produkte, die bisher in ganz normalen Supermärkten oder Drogerien im Regal lagen.
Bisher im Supermarkt, jetzt in abschließbaren Schränken
Auf Seite 15 des 33 Seiten umfassenden Entwurfs der Biozid-Verordnung ist unter dem Punkt „Erfüllungsaufwand“ nachzulesen, was das für die betroffenen Unternehmen bedeutet, vor allem für Einzelhändler, die abschließbare Schränke anschaffen und ihr Personal schulen müssen. Kostenmäßig ist schon der Start mit dem neuen Regelwerk ziemlich teuer. Knapp 94 Millionen Euro veranschlagen die Bürokraten für den „einmaligen Erfüllungsaufwand“. Danach geht es jährlich weiter mit 20,44 Millionen Euro Aufwand, davon 348.000 Euro „Bürokratiekosten“ für die Unternehmen. Die Relation zum betreffenden Umsatz wird an dieser Stelle im Verordnungsentwurf nicht gezogen. Sie ist aber durchaus bemerkenswert: Der Gesamtumsatz aller Biozide lag gemäß Erhebungen der Marktforschungsgesellschaft NielsenIQ im vergangenen Jahr bei 236 Millionen Euro. Der erstmalige Aufwand für die Umsetzung dieser Verordnung liegt demnach bei 40 Prozent des Jahresumsatzes.
Mit solchen Marktzahlen beliefern Marktforschungsunternehmen zuverlässig und aktuell die deutsche Wirtschaft. In den Behörden rechnet man selbst oder schätzt. So basiert der Entwurf der Verordnung auf Pflanzenschutzmittel-Verkäufen aus dem Jahr 2006, aus denen die Notwendigkeit von 1,217 Millionen Beratungen abgeleitet wird. Das weicht deutlich ab von den Erhebungen von NielsenIQ, die über 47 Millionen verkaufte Biozid-Produkte berichten – wobei das Alter der verwendeten Daten eine Rolle spielen dürfte. Gleichwohl werden im Entwurf der Verordnung penibel werden alle möglichen weiteren Rechnungen ausgeführt – zum Beispiel wie viele Beschäftigte mit welchen Stundenlöhnen die nötige Sachkundeschulung zu je 16 Stunden erhalten müssen, damit auch immer eine Vertretung gewährleistet ist. Diese Kalkulation geht von 34.000 Geschäften aus, in denen bisher in Deutschland Pflanzenschutzmittel verkauft werden. Ob diese Größenordnung realistisch ist, hängt wohl auch von der Durchschlagskraft des neuen Selbstbedienungsverbots ab – denn viele Händler dürften sich wegen des hohen Aufwands ganz von diesem Nischen-Geschäft verabschieden.

Auch die Verbraucher sind eine unbekannte Größe. Wollen sie wirklich erst auf die Suche nach sachkundigem Personal gehen, bevor sie ein längst bekanntes und bewährtes Mittel kaufen? Das Verkaufsgespräch, das sie dann erwartet, dauert nach der Schätzung im Verordnungsentwurf 7,5 Minuten. Dabei soll es um die bestimmungsgemäße Anwendung gehen, um Risiken und Risikominderungsmaßnahmen, um Vorsichtsmaßnahmen im Fall des unvorhergesehenen Verschüttens oder Freisetzens, sachgerechte Lagerung und ordnungsgemäße Entsorgung, aber auch um Prävention gegen Schädlinge und um mögliche Alternativen mit geringem Risiko.
Wer online bestellt, muss die Belehrung als Video ansehen
Die Flucht der Verbraucher zu Online-Händlern ist absehbar, auch für die Gestalter der Paragraphen im Bundesministerium für Umwelt- und Verbraucherschutz (BMUV): Auch in der digitalen Welt soll das Selbstbedienungsverbot durchgesetzt werden. „Erfolgt die Abgabe im Online-Handel oder sonst im Versandwege“, so heißt es in Paragraph 12, muss sichergestellt sein, dass vor Abschluss des Kaufvertrags über das Biozid-Produkt „ein fernmündliches oder ein per Videoübertragung geführtes Abgabegespräch“ durch eine sachkundige Person nachweisbar erfolgt – sprich: Online-Käufer müssen sich ein Video ansehen, Wegklicken soll nicht möglich sein. Als Koordinator für sieben betroffene Hersteller hat der Industrieverband Agrar solche Videos für verschiedene Anwendungen erstellt. Ob sie vom Gesetzgeber als ausreichend akzeptiert werden, ist offenbar noch unklar – zumal die Entscheidung darüber wieder in den einzelnen Bundesländern fällt. Nach einer Sitzung des Bund-Länder-Arbeitskreises Chemikalienrecht im Januar verlautete, es habe unterschiedliche Ansichten zu den Videos gegeben.
Bei Neudorff, wo ein Sechstel des Umsatzes auf Biozide entfällt, hat man vorsichtshalber Alternativen entwickelt, um das jetzt in Kraft getretene Selbstbedienungsverbot zu umgehen. Für viele Probleme, die Verbraucher mit Schädlingen haben, gibt es jetzt Mittel, die nicht unter Verschluss genommen werden müssen, weil sie mit anderen Wirkstoffen arbeiten. Eines der Ziele der Verordnung dürfte damit erreicht sein.
Bald sollen nur noch Profis Rattengift einsetzen dürfen
Der nächste Eingriff zeichnet sich unterdessen schon ab – im Fall der sogenannten Rodentiziden, die zur Bekämpfung von Mäusen und Ratten eingesetzt werden. Hier plant die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), die bisherigen Mittel (etwa Fraßköder) nicht mehr für Privatanwender zuzulassen. Gleich mehrere Verbände und Unternehmen wenden sich in einem Brandbrief gegen diese Maßnahme – darunter sogar der Deutsche Schädlingsbekämpfer-Verband DSV. Die Profis könnten zwar womöglich einen Auftragsboom erleben, doch der zusätzliche Bedarf könnte wohl kurzfristig gar nicht aufgefangen werden, warnt DSV-Vorstand Marcus Römer.
Neudorff-Geschäftsführer Richard von Hermann bezweifelt ohnehin, dass alle Betroffenen schnell einen Kammerjäger engagieren. Das sei „unrealistisch und nicht zumutbar“, sagt er – und warnt vor den Folgen, die alle zu tragen hätten, von den Sachschäden bis zur Übertragung von Krankheiten durch die Nagetiere. „Schon jetzt haben die Kommunen die Rattensituation nicht mehr im Griff“, urteilt von Hermann. Experten zufolge gebe es schon jetzt in Städten drei bis vier Ratten pro Einwohner, Tendenz steigend: Ein einzelnes Rattenpaar könne hunderte von Nachkommen jährlich haben.