Wer verdient an Haftbefehl und seiner Sucht? Ein kritischer Blick uff die Netflix-Doku

Was in der Netflix-Doku „Babo“ über Haftbefehl unterbelichtet bleibt: die Rolle der modernen Major-Musikindustrie. Für wen lohnt es sich, das Spektakel um den von der Suchtkrankheit gezeichneten Rapper am Laufen zu halten?


Haftbefehl einer der größten Rapkünstler und Popstars Deutschlands

Foto: Paul Zinken/dpa/picture alliance


Über keinen Film wird in Deutschland aktuell so angeregt diskutiert wie über die Netflix-Produktion Babo – Die Haftbefehl-Story: seine „Ehrlichkeit“ wird gepriesen, das Produktionsniveau, die Offenheit der Hauptfigur, Aykut Anhan, besser bekannt als Haftbefehl. Den Anstoß zum Film, so fair muss man sein, soll Anhan selbst gegeben haben, als er vor einigen Jahren den Schauspieler Elyas M’Barek dazu rekrutieren wollte, seine Lebensgeschichte zu verfilmen. Der wiederum empfahl doch lieber eine Dokumentation zu drehen, und stieg selbst als Produzent mit ein.

Und es ist wichtig zu erwähnen, von wem der Impuls für den Film ausging, wichtig, auf die Mündigkeit des Künstlers hinzuweisen. Denn der Inhalt hat es in sich: Wir sehen Anhan in Momenten absoluten Verfalls, wir sehen die Verzweiflung seiner Nächsten, insbesondere seiner Frau und seines kleinen Bruders, des Rappers Capo, wir sehen ihn am tiefsten Punkt. Anhan sagt sogar im Film, dass es seine Entscheidung ist, all das ungeschönt zu zeigen.

Aber dennoch bleibt mehr als nur ein schales Gefühl zurück: Ist es angemessen, einen Menschen in Notzuständen, am Tiefpunkt zu zeigen? Und wenn er selbst ausdrückt, dass dies sein Wille ist – entschuldigt das alles?

Die Verwertungslogiken der Major-Musikindustrie: Wer trägt die Kosten?

Denn während sich der Film auf den Aufstieg der Figur Haftbefehl und die traumatischen Erfahrungen des Menschen Aykut Anhan fokussiert, bleibt ein Thema unterbelichtet: die Maschine, die das Spektakel am Laufen hält, mit Auftritten, mit weiteren Verträgen, mit der Marke Haftbefehl – und ihrer Strahlkraft.

Eine Maschine, die einen migrantisierten jungen Mann und die künstlerische Verarbeitung seiner Traumata erst in Content und dann in Kapital umwandelt. Die Haftbefehl-Story erzählt damit, obwohl dieser Aspekt unausgesprochen bleibt, von den Verwertungslogiken der modernen Major-Musikindustrie: Labelchef, A&R und Booker werden interviewt, die alle davon sprechen, wie unberechenbar die Zusammenarbeit mit Anhan sei, dass man nie genau wisse, wann und ob er auftauche.

Aufhören will aber lange Zeit trotzdem niemand. Schließlich ist Haftbefehl einer der größten Rapkünstler und Popstars Deutschlands, eine sichere Bank mit beständiger Fanszene von Straße und Schulhof bis Feuilleton. Der Erfolg und die Gewinnmargen reichen aus, um das Risiko der Zusammenarbeit mit dem zeitweise von Suchtkrankheit gezeichneten und unzuverlässigen Künstler einzugehen. Nur: Wer trägt die Kosten, wenn ein Vertrag platzt? Die Firmen oder der Künstler?

Die Frage, die die Haftbefehl-Doku dringend stellen müsste?

Ein Höhepunkt des Films ist ein Konzert in Frankfurt, das als Geburtstagskonzert für Anhan ausgerichtet wird. Man muss sich vor Augen führen: Es ist sein Geburtstag, aber auf der Bühne steht natürlich er selbst und arbeitet und finanziert damit ein ganzes musikwirtschaftliches Ökosystem. Es ist offensichtlich, dass er zu diesem Zeitpunkt schon gesundheitlich schwer angeschlagen ist, dass sein Nasenbluten mutmaßlich nicht von großer Nervosität am ersten Schultag stammt.

Die Frage, die die Doku nicht stellt, aber die hier gestellt werden müsste: Ist es noch verantwortungsvoll, einen schwer kranken Künstler auf die Bühne zu stellen? Oder ist alles erlaubt, sobald die betreffende Person einwilligt – und abliefert? Wie steht es um den freien Willen, wenn jemand mit einer Suchtkrankheit lebt und seine Familie und sein gesamtes Umfeld mit seinem Schaffen finanziert? Und steht es Außenstehenden überhaupt zu, solche Entscheidungen zu kritisieren, wenn der Künstler selbst sie trifft?

Es geht auch um eine Fankultur, die von Kunstschaffenden nie genug bekommt

Natürlich ist Aykut Anhan seine Selbstbestimmung nicht abzusprechen. Aber es stellt sich doch die Frage, ob Anhan trotz oder wegen seines Erfolgs krank geblieben und kränker geworden ist – und ob die Musikindustrie da nicht als Enabler agiert.

Die Doku ist ein Symbol, das Symbol eines Musikbetriebs und einer Fankultur, die von Kunstschaffenden nie genug bekommen. Dass Anhan in seinen Texten immer wieder von Sucht und Trauma gerappt hat, dass es die fast schon physisch spürbare Wahrhaftigkeit war, die diesen Künstler vom Straßenrapper zum Superstar hat werden lassen, hat nicht ausgereicht – das Publikum goutiert die Kamera, die da zusätzlich draufgehalten wird, die die tiefsten Tiefen mit Flutlicht ausleuchtet.

Seit Erscheinen des Films vor rund einer Woche wird er gefeiert, aber auch genau aufgrund dieser Verwertung eines Absturzes kritisiert, in Kritiken und auf sozialen Medien. Aber auch diese Kritik ist natürlich ein Teil der Verwertung, sie trägt zum Diskurs und zur weiteren Popularität der Doku, aber auch des Künstlers bei. Und die Maschine, sie läuft gut geölt weiter: Das nächste Konzert in Frankfurt wurde für 2026 schon angekündigt.