Wer tötete Charlie Kirk? Oben neue Verschwörungstheorien in MAGA und echte Zweifel
Wer ermordete Charlie Kirk? Diese Frage beschäftigt die USA fast drei Wochen nach seinem Tod noch immer. Verschiedene Narrative schwirren durch den öffentlichen Diskurs, und das gespaltene Land scheint noch ein Stück weiter auseinandergetrieben zu werden.
Die US-Regierung beschuldigt die Linke, die Linke beschuldigt die Rechte, die MAGA-Rebellen beschuldigen den „Tiefen Staat“, es gibt teils wirre Verschwörungstheorien und teils nachvollziehbare Vermutungen – und alle haben ihre eigene Agenda, die sich aus ihrer jeweiligen Erzählung ableitet. Eine kleine Übersicht.
1. „Es war die Linke“: Wie die Trump-Regierung den Mord an Charlie Kirk nutzt
Für das Establishment der Trump-Regierung ist dieser Mord ein willkommener Anlass, die Repression gegen die Opposition auf eine neue Stufe zu heben – es ist ihr „Reichstagsbrand“. Trump rief sofort zum Kampf gegen die politische Linke auf, ebenso JD Vance. Elon Musk schrieb, die Linke sei die Partei des Mordes, und die Justizministerin Pam Bondi erklärte: „Wir kommen und holen euch, für jeden einzelnen Hate-Speech.“
Das Verbot der Antifa und ihre Einstufung als terroristische Organisation ist dabei nur der Anfang. Gerade weil die Antifa keine formale Organisation ist, bietet die Drohung ein Freiticket, um gegen alles und jeden vorzugehen, der irgendwie links wirkt. Bei der offiziellen Trauerzeremonie für Charlie Kirk heizten sich die Trumpisten zu einem Heiligen Krieg gegen die Linke auf.
Doch das Establishment hat einiges nicht einkalkuliert: Das Internet explodiert mit alternativen Erzählungen zu diesem Mord an Charlie Kirk. Einige MAGA-Rebellen stellen die Einzeltäter-These selbst infrage und erschüttern damit weiter die Grundfesten des Establishments.
Wie schwach das Establishment eigentlich ist, zeigte der prominenteste Angriff auf den progressiven Komiker Jimmy Kimmel: Die Absetzung seiner Show wurde nach einer Woche massiver Proteste von Disney zurückgenommen, und seine Zuschauerzahl stieg von durchschnittlich 250.000 auf über sechs Millionen am vergangenen Dienstag.
2. „Robinson kann kein Linker sein“: Die Groyper-These
Die Begründung für die angebliche linke Orientierung des festgenommenen mutmaßlichen Täters Tyler Robinson waren die Gravuren auf seinen Patronen sowie die Tatsache, dass seine Mitbewohnerin eine trans* Person ist. Die rechtsradikale Influencerin und Trump-Vertraute Laura Loomer sprach von einer „Trans-Terror-Zelle“ und forderte, die trans* Bewegung als terroristische Organisation einzustufen. Bei den Gravuren auf den Patronen ging es vor allem um „Hey fascist! Catch!“ und „Bella Ciao“, das Zitat des antifaschistischen Liedes.
Diese Gravuren als Beweis für eine linke Gesinnung zu deuten, zeigt ein großes Unverständnis für die politischen Codes der Internetjugend.
Kenner der Sprachcodes der Gamerszene wiesen darauf hin, dass das, was wir über den Täter wissen, ihn eher in der politischen Rechten verortet. Wie auch in deutschen Medien rezipiert, geht die These davon aus, dass Tyler Robinson der Bewegung der Groypers angehört hat, einer extrem rechten Sekte, die dem Influencer Nick Fuentes folgt. Es gibt ein Foto von Robinson, auf dem er in der Pose des Groyper-Froschs abgebildet ist – ein ziemlich eindeutiges Bild.
Schwer vorstellbar ist die These seiner linken Gesinnung auch angesichts seines familiären Hintergrunds. Er stammt aus einem extrem rechten Elternhaus. Die Familie ist mormonisch, fanatische Trump-Wähler und Waffenliebhaber. Müsste ein Linker, der zu einem Terroranschlag greift, nicht offen mit seiner Familie gebrochen haben?
Alles ist möglich in den Wirren der US-amerikanischen Gesellschaft, aber es wirft Fragen auf, wenn ein 22-jähriger Linksradikaler mit einer trans* Partnerin und einer radikal rechten Familie leben soll, ohne mit dieser in offenen Konflikt zu geraten. Auch die Signale auf seinen Patronen widersprechen einer Groyper-Gesinnung nicht.
3. „Es war die Feindschaft zwischen Nick Fuentes und Charlie Kirk“
Man muss wissen, dass Nick Fuentes seit Jahren in einem verbalen Krieg mit Charlie Kirk lag. Fuentes und seine Fans störten systematisch Kirks Auftritte, erhielten Hausverbot, und Kirk, bekannt für seine Bereitschaft, auch mit politischen Gegnern zu debattieren, weigerte sich, mit Fuentes zu sprechen.
„Faschist“ als Vorwurf ist in rechten Kreisen nichts Ungewöhnliches, übrigens auch in Deutschland: Auf einer aktuellen Podiumsdiskussion von AfD-nahen Kreisen mit dem Rechtsextremisten Martin Sellner lautete der Titel: „Was tun angesichts der Gefahr eines neuen 1933?“
Für die Neonazis um Fuentes sind alle, die anderer Meinung sind und sie angeblich unterdrücken, „Faschisten“. Und so absurd es klingt: Das antifaschistische Lied Bella Ciao wurde durch die auch in rechten Kreisen populäre Serie „Haus des Geldes“ dort verbreitet.
Recht unvereinbar mit einer linken Gesinnung ist eine weitere Gravur: „If you read this, you are gay lmao (laughing my ass off)“. Solche Sprüche stammen aus der Gamerszene und haben mit linker, politisch korrekter Jugendkultur wenig gemein.
4. „Trans* ist nicht automatisch links“: Das Phänomen des „Trans*-Maxxing“
Auch Robinsons Beziehung zu einer trans* Person ist kein Indiz für linke Überzeugungen. Sie passt vielmehr zum Phänomen des „Trans*-Maxxing“, das in Incel- und rechten Subkulturen kursiert. Nick Fuentes, selbst Rechtsradikaler, gilt als Aushängeschild dieser Incel-Kultur, zu der offenbar auch Robinson gehörte. Es gibt keine Belege oder Fotos, die ihn mit einer Frau zeigen. Incels – vereinsamte junge Männer – machen Frauen für ihre Isolation und ihr „erzwungenes Zölibat“ verantwortlich.
Im sogenannten „Red-Pill“-Narrativ (angelehnt an den Film Matrix) der Incels ist die heutige Weltordnung von Frauen dominiert; Männer, insbesondere weiße Männer, sehen sich als Benachteiligte und Opfer eines Systems, das Frauen und Weiblichkeit privilegiert. „Trans*-Maxxing“ ist ein Trend, bei dem rechtsradikale Incel-Jugendliche sich eine Transition aneignen, um die angeblichen Privilegien von Frauen zu erlangen, die sie als Männer nie hätten. Zudem sehen sie darin die einzige Möglichkeit, überhaupt Intimität zu erfahren, da sie davon ausgehen, nie in ihrem Leben mit einer Frau intim zu werden. Sie hassen Frauen so sehr, dass sie sich teilweise in Weiblichkeit „flüchten“ und sich davon Privilegien und Akzeptanz in bestimmten Communitys versprechen.
5. Verschwörungstheorie oder begründete Zweifel? Die MAGA-Rebellion gegen die Einzeltäter-Theorie
Nicht in der Sache, aber in der Heftigkeit überraschend war die Rebellion innerhalb der MAGA-Sphäre gegen die offizielle Version des Attentats. Ganz vorne dabei ist Candace Owens, die im Internet gleichzeitig die Rolle der Generalstaatsanwältin und Chefermittlerin einnimmt. Sie ist keine kleine Nummer: Owens, wie Kirk aus der evangelikalen Rechten, kannte ihn seit ihrer frühen Jugend und war eng mit ihm befreundet. Owens behauptet, viele Quellen würden sich bei ihr melden und Informationen liefern, die der offiziellen Einzeltäter-These widersprechen.
Das Ganze explodiert im Internet: Owens hat Millionen Zuschauer, und ihre Argumente werden auf TikTok und anderen Plattformen unzählige Male geteilt. Wichtig ist hier: An der Spitze des FBI steht Kash Patel, ein ehemaliger rechter Podcaster, der großspurig versprach, die Epstein-Akten zu veröffentlichen, und nach der Wahl offenbar an deren Vertuschung beteiligt war. Patels Glaubwürdigkeit ist besonders in der MAGA-Basis zusammengebrochen; er wirkt dort wie ein Clown, dem man nichts mehr glaubt.
Folgt man Owens Darstellungen, weckt manches an der Geschichte Zweifel: Es werden Aufnahmen veröffentlicht, in denen Robinson eine halbe Stunde nach der Tat ohne Sonnenbrille und in denselben Klamotten entspannt einen Burger in einem Fast-Food-Restaurant nahe des Tatorts isst. Ein Mann auf der Flucht?
Auf anderen Aufnahmen steigt eine Person, die Robinson sein soll, vom Dach, von dem er geschossen haben soll, mit einem Rucksack herunter. Von der Waffe sieht man nichts. Er soll sie abgebaut im Rucksack getragen haben. Später wird die Waffe jedoch zusammengebaut im Wald wiedergefunden. Es handelt sich um eine alte Waffe seines Großvaters. Experten sagen, es sei nicht einfach, diese Waffe mal eben auseinander- und wieder zusammenzubauen. Ein Ermittlungsfehler?
Die veröffentlichten Chatprotokolle sorgen ebenfalls für Skepsis: „So reden keine 22-Jährigen“, heißt es in millionenfach angesehenen Videos. Nicht nur Rechte, sondern auch progressive Stimmen wie Krystal Ball von Breaking Points sagen einhellig: „Ich kaufe das nicht ab.“
Die Vertrauenskrise von FBI und Justizministerium seit dem Epstein-Skandal und diese Ungereimtheiten haben das Internet zum Kochen gebracht. Nach Epstein gibt es erneut einen Moment, in dem Linke und Rechte quer durch alle Lager die Erzählung und Glaubwürdigkeit des Establishments radikal infrage stellen.
6. Die These der MAGA-Rebellen: „Wollte das rechte Establishment Charlie Kirk weg haben?“
Für die MAGA-Rebellen war es ein politischer Mord, weil Charlie Kirk dabei war, sich vom Diskurs des Establishments zu lösen.
Kirk war ein Liebling von Donald Trump. Seine Rolle bei der Ansprache der Jugend, insbesondere junger Männer, für die politische Rechte kann kaum überschätzt werden. Doch in den letzten Monaten hatte er sich auf zwei Ebenen kritisch geäußert: gegenüber Israel und gegenüber der Wirtschaftspolitik.
Er begann, sich kritischer zu Israel zu äußern und sprach sogar von „ethnischen Säuberungen“ in Gaza. Bei dem letzten großen Kongress seiner Organisation Turning Point USA in Tampa bekamen die Israel-Kritiker Dave Smith und Tucker Carlson große Bühnen. Das führte zu massiver Verstörung seiner reichen Spender.
Besonders Bill Ackman setzte ihn scheinbar massiv unter Druck. Tucker Carlson berichtet vom Kongress in Tampa, wo er Kirk sagte, er könne sich „zähmen“ oder auf die Rede verzichten, weil Kirk sonst Probleme bekomme. Kirk soll geantwortet haben: „Go all the way!“
Charlie Kirk stand hinter den Kulissen massiv unter Druck
In einem seiner letzten Interviews mit Megyn Kelly sprach Kirk darüber, wie schon die kleinste Kritik und allein die Tatsache, dass er kritische Stimmen auf seinem Kongress reden ließ, zu massivem Druck hinter den Kulissen geführt habe. Owens und andere berichten, Kirk habe privat gesagt, er habe Angst vor dem, was auf ihn zukomme. Kirk, der sonst furchtlos in die Höhle der Löwen an US-Universitäten ging, um provokante rechtsaußen Thesen zu vertreten, war nicht gerade ängstlich.
Eine beeindruckende Wende zeigte sich auch in seinen wirtschaftspolitischen Ansichten. In seinem letzten Interview bei Tucker Carlson war nichts mehr von alten libertären Positionen zu hören. Er sprach sich für eine Wirtschaftspolitik aus, die die sozialen Nöte der Bevölkerung ernst nimmt, bezog sich positiv auf Roosevelt und den New Deal und übte scharfe Kritik an Wall Street und den Kreditinstituten. „I am not a marxist, I am for free market, but …“, sagte er in dem Gespräch und warnte immer wieder, dass die radikale Linke eine Revolution starten könnte, wenn sich an den sozialen Verhältnissen nichts ändere.
Diese Wende hing wohl auch damit zusammen, dass er den Puls der Jugend kannte. Alle Umfragen zeigen, wie stark sich die Haltung der US-Jugend zu Israel und zum Kapitalismus gerade eruptiv verändert. Für die MAGA-Rebellen sind die Parallelen zu John F. Kennedy eindeutig: Eine mächtige Person, die sich vom Establishment löst und für dieses gefährlich wird, bekommt in den USA schnell eine Kugel.
Ob der Tod von Charlie Kirk die Rechte tatsächlich stärkt oder vielmehr bestehende Spaltungen vorantreibt, ist daher alles andere als ausgemacht.