Wer nimmt Anteil am 7. Oktober?: In Deutschland hat sich Hamas durchgesetzt – n-tv.de

Hamas hat gewonnen, jedenfalls in Deutschland. Bilder vom Terror und radikaler Protestler dominieren. Was machen eigentlich die Betroffenen des Überfalls auf Israel am 7. Oktober?

Der Begriff „Ghetto“ kommt aus dem Italienischen und bezeichnete ursprünglich abgesonderte Wohnviertel für Juden im 16. Jahrhundert. Juden lebten damals nicht in der Mitte der Gesellschaft, sondern abgeschieden, in einer eigenen Welt, dem Ghetto, bis zur jüdischen Emanzipation. Daran musste ich kürzlich denken, als ich eine öffentliche Veranstaltung über die gesundheitlichen Folgen des 7. Oktober besuchte.

Auf dem Podium der Veranstaltung sprachen Ärzte, Psychologen, Vertreter von Opferorganisationen. Zu Beginn zeigte man ein Video vom 7. Oktober, es war wie immer grauenhaft, Granaten in vollbesetzte Schutzräume, Verstecken unter Leichen, solche Sachen. Erst streikte der Beamer, danach gab es eine Minute Andacht.

Weil schon ein Gespräch über Massakerfolgen im Deutschland des Jahre 2024 eine Provokation darstellt, wurde der Veranstaltungsort in Berlin-Schöneberg zunächst geheim gehalten. Klar war da Polizei, man ist ja schließlich nicht irre. Viele der Besucher trugen gelbe Schleifchen. Dieser „awareness ribbon“ hat offenbar eine lange Geschichte, die Anwesenden aber trugen das Symbol aus Solidarität mit den Geiseln der Hamas. Unter den Entführten ist übrigens ein Baby, das kürzlich ein interessantes Jubiläum feiern durfte: Es lebt nun länger in Geiselhaft als in Freiheit.

Solidarität ist ein Spiel mit dem Feuer

Ich hatte das Schleifchen zuvor noch nicht gesehen. Warum eigentlich nicht? Man bekomme das Schleifchen bei bestimmten Veranstaltungen, verrät mir ein älterer Herr und empfiehlt mir das jüdische Street Food Festival in Berlin am 7. Juli. Seltsam: Ist es nicht die Natur der Solidarität, dass sie von Unbetroffenen geäußert wird? Warum ist es dann offenbar auf die jüdische Blase begrenzt?

Vermutlich, weil auch diese Form der Solidarität ein Spiel mit dem Feuer ist. Die Furcht vor Gewaltbereitschaft propalästinensischer Aktivisten drängt die Juden dorthin, wo sie sich herausemanzipiert hatten: in ein Ghetto. Ein halbes Jahrtausend nach der Judenemanzipation ist von Durchmischung nicht mehr viel zu sehen. Und das zeigte sich nicht nur bei halbgeheimen Diskussionsrunden in Schöneberg – sondern auch auf edlen Hochschulabsolvenzfeiern in der Berliner Philharmonie.

Dort hat Cornelia Woll, die Präsidentin der Hertie-School, einer schicken Adresse für den politischen Nachwuchs aus aller Welt, gerade die Graduierten verabschiedet. Die Akustik war gut, es war schließlich die Philharmonie. Was dennoch nicht von Woll zu hören war: ein Wort der Solidarität mit den israelischen Geiseln oder des Mitgefühls für Opfer des Massakers. Sie sprach stattdessen darüber, wie privilegiert man sei, ohne Angst studieren zu dürfen. Sie erwähnte „Zeichen der Solidarität mit den Menschen in Gaza“, die sie im Publikum erkenne. Dann richtete sie dafür eine Schweigeminute im Stehen ein. Von Juden, die sich andernorts nicht mehr in die Universität trauen, sprach sie nicht.

„Eiskalte Geschichtsklitterung“ nannte das der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, Michael Roth von der SPD; „eisige Agenda“ der „Welt“-Chefredakteur Ulf Poschardt. Der Name Hertie geht immerhin auf ein jüdisches Kaufhaus zurück. Tatsächlich hatte die Präsidentin den 7. Oktober durchaus noch erwähnt, nur eben zwei Stunden später. Das Massaker und Israels Reaktion sei eine Herausforderung für Universitäten. Mehr Mitgefühl war offenbar nicht drin.

Mit brutalstmöglicher Sorgfalt

Besonnen sei das, lobte ein in diesen Dingen palästinenserfreundlicher Völkerrechtsprofessor. „Wieder eine Hochschulleiterin (immer sind es Frauen!), die ein Pulverfass ohne Polizei würdig entschärfen will und es hier auch schafft!“

Es ist schlicht die Kapitulation vor Gewaltbereitschaft. Die so gelobten Uni-Präsidentinnen können sich freuen, dass Israelis und Juden nicht dazu neigen, durch Hörsäle zu marodieren, wenn gerade ein Massaker an ihren Leuten verübt wurde – dann würde es nämlich erst richtig kompliziert.

Währenddessen beugen sich Juristen mit brutalstmöglicher juristischer Sorgfalt über den Slogan „From the River to the Sea“. Das Landgericht Mannheim etwa hat in der Szene vermutlich für spontanen Baklava-Verzehr auf der Sonnenallee gesorgt, als es den Spruch aus der ekeligen Hamas-Hülle schälte und in einem Strafverfahren entschied, der Slogan sei nicht sicher den Terroristen zuzuordnen. Der Verfassungsgerichtshof in Bayern hat den Spruch gerade auf einer Demo gestattet.

Warum „From the river to the sea“?

Und so lehnen sich die Menschen erleichtert aufs Gesetzbuch, als sei es ein Ersatz für Haltung und Verantwortung. Ich habe schlechte Nachrichten: Für Juden hat sich das Recht nicht gerade als Brandmauer erwiesen – ganz im Gegenteil: Die Justiz hat fröhlich mitgemischt und das Recht dem Führer juristische Autobahnen geteert. Nein: Das Recht hilft nicht beim „Nie wieder“. Das muss schon der Anstand richten.

Wie dumm muss man sich eigentlich stellen, um nicht zu wissen, warum Demonstranten überhaupt „From the river to the sea“ brüllen wollen? Stellen wir uns genauso dumm, wenn Björn Höcke „Alles für Deutschland“ ruft und das alles nicht so SA-mäßig gemeint haben will? Nein, natürlich nicht. Weil selbst AfDler derzeit nicht zur Gewalt aufrufen, wenn sie nicht ihren Willen bekommen.

Die Hamas-Täter vom 7. Oktober hätten zu zehn Prozent aus Videografen bestanden, um Bilder zu produzieren, sagte der Psychologe Ahmad Mansour bei der Schöneberger Veranstaltung. Es ging um mehr als die Taten vor Ort – Hamas verfolgte eine Medienstrategie. Kamil Majchrzak von der Organisation Mahnwachen gegen Antisemitismus Berlin analysierte, das Ziel der Terroristen sei die „Entsolidarisierung“ der Gesellschaft mit Israel. Die Experten sprachen von Retraumatisierung nicht nur jüdischer Opfergruppen durch die Gewalttaten vom 7. Oktober. Der strategisch kluge Plan der Terroristen scheint voll aufzugehen. Die Zahlen zeugen von einem echten Rekordjahr für den Antisemitismus.

„Endlich auf der richtigen Seite“

Warum kippt auch die deutsche Öffentlichkeit so stark gegen Israel? Meryam Schouler-Ocak von der Charité hält es für möglich, dass deutsche Protestler den antisemitischen Vorbildern aus dem Zweiten Weltkrieg nacheifern, unbewusst. Marina Chenivsky von der Organisation OFEK meinte, womöglich wollten die Deutschen „endlich auf der richtigen Seite der Geschichte stehen“ – und wendeten sich deshalb gegen den vermeintlich Stärkeren: Israel. Sie warnte aber auch, man dürfe nicht alles durch Pathologien erklären: „Universitätspräsidentinnen sind nicht traumatisiert.“

Im Grunde erklärt aber genau das vielleicht sogar ihr Verhalten. Wie auch immer: Am Ende der Veranstaltung hatten zwei der Panelisten hörbare Klöße im Hals, ihre Stimmen versagen. Draußen, vor dem geöffneten Fenster brüllte jemand plötzlich aus voller Kehle „Free! Free! Palestine!“, es klang wie der Schlachtruf, der es ist. Drinnen erstarrten die Gesichter, dann begann auch im Publikum eine Frau zu weinen.

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Ja, natürlich darf man das rufen – es gilt die Meinungsfreiheit. Und so verblasst der 7. Oktober mit jedem Ruf und jedem neuen Fernsehbild aus Gaza zu einer Erinnerung – zu einer Judenangelegenheit. Die Öffentlichkeit kreist nahezu vollständig um Gaza und eine in Teilen gewaltbereite Protestbewegung.

Kann man diese gesellschaftliche Ghettoisierung durchbrechen? Man kann. Zum Beispiel auf dem jüdischen Street Food-Festival in Berlin. Die Sicherheitsmaßnahmen werden absurd hoch sein. Es gibt vielleicht gelbe Schleifchen zu erwerben. Ein bisschen Mut braucht es dazu aber schon.

Source: n-tv.de