Wer jetzt noch hektisch die Schuldenregeln aufweicht, missachtet den Willen des Volkes

Nach der Wahl haben die extremen Parteien rechts und links der Mitte eine Sperrminorität im Bundestag. Das böse Erwachen der CDU kommt verdächtig schnell. Wie SPD und Grüne schließt sie nicht aus, mit alten Mehrheiten neue Schuldenregeln durchzusetzen. Es wäre ein gefährlicher Präzedenzfall.
Niemand kann sagen, dass er am Montagmorgen völlig davon überrascht wurde, dass Deutschland vor großen Herausforderungen steht und in den kommenden Jahren viel Geld für Rüstung und Infrastruktur ausgeben muss.
All das wurde im Wahlkampf ausführlich diskutiert. Das Ergebnis war scheinbar klar: Es gab im alten Bundestag keine Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Veränderung der Schuldenregeln oder neue Sondervermögen, um zusätzliche finanzielle Spielräume für die notwendigen Investitionen zu schaffen.
Doch am Morgen nach der Wahl soll plötzlich alles anders sein: Weder der designierte Kanzler Friedrich Merz (CDU), noch sein Vorgänger Olaf Scholz (SPD) und schon gar nicht Noch-Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) wollen eine hektische Änderung der Schuldenbremse oder zusätzliche Sonderschulden mit den alten Mehrheiten im Bundestag ausschließen.
Rechtlich mag das in den kommenden vier Wochen möglich sein, solange sich das neue Parlament noch nicht konstituiert hat. Aber es wäre eine unverhohlene Missachtung einer demokratischen Entscheidung.
Seit dem 23. Februar gibt es in Deutschland andere, amtlich festgestellte, Mehrheiten. Das Volk hat seinen Willen klar zum Ausdruck gebracht. Das muss niemandem gefallen.
Dass rechte und linke Extremisten im nächsten Bundestag mehr als ein Drittel der Sitze und damit eine Sperrminorität gegen Verfassungsänderungen haben, ist eine bittere Niederlage der demokratischen Parteien in der Mitte. Aber diese Niederlage gilt es zu akzeptieren, das ist das Wesen der Demokratie.
Das böse Erwachen kommt verdächtig schnell
Die Union hat sich schlicht verzockt. Mit SPD und Grünen wäre eine Reform der Schuldenbremse spätestens seit dem Ampelbruch vor drei Monaten möglich gewesen. Doch Merz wollte seinen Wahlkampf nicht damit belasten und behauptete stattdessen, dass sich die finanziellen Probleme bei der Bewältigung der multiplen Krisen von der maroden Infrastruktur bis zum Ukrainekrieg auch durch Einsparungen im Sozialen und zusätzliches Wirtschaftswachstum bewältigen lassen würden.
Der Kanzler in spe ging damit bewusst das Risiko ein, nach der Wahl vor dem gleichen Problem zu stehen wie die Ampel, wenn die radikalen Parteien zu viele Stimmen bekommen sollten.
Nun kommt das böse Erwachen – und es kommt verdächtig schnell. Wenige Stunden nachdem die letzten Stimmen ausgezählt sind, wird bereits in Berlin über die Last-Minute-Änderung diskutiert.
Hat Merz darauf spekuliert, dass man notfalls immer noch die letzten vier Wochen nutzen kann, wenn es schiefgehen sollte? Es wäre eine geplante Verachtung des Wählerwillens. Natürlich: Der Bundestag muss auch in Übergangsphasen beschluss- und handlungsfähig sein, um im Notfall reagieren zu können. 1998 hat der alte Bundestag nach der Wahl noch über den Kosovo-Einsatz entschieden, um eine humanitäre Katastrophe abzuwenden.
Es wäre ein gefährlicher Präzedenzfall, wenn nun ohne akute Notlage mit alten Mehrheiten, die es in Wirklichkeit schon nicht mehr gibt, Beschlüsse gefasst würden. Wer sollte sonst in Zukunft verhindern, dass eine abgewählte Regierung ihre letzten Vorhaben noch in den Wochen nach der Wahl durchs Parlament drückt?
Es gibt gute Argumente, angesichts der Dimension der geopolitischen Herausforderungen, die geltenden strengen Schuldenregeln zu modifizieren. Die Mehrheit der Ökonomen befürwortet eine solche Reform seit vielen Monaten.
Diese Argumente haben sich in den Stunden seit der Wahl nicht verändert. Dass Europa künftig sehr viel mehr Geld für die eigene Verteidigung ausgeben muss, war spätestens mit der Wahl von Donald Trump im November klar.
Man hätte drei Monate Zeit gehabt, das Notwendige zu tun. Doch stattdessen hat Merz geglaubt, dass er seinen Wählern diese Notwendigkeit einfach nach dem Urnengang unterjubeln kann. Nun haben die Wähler Fakten geschaffen. Diese Entscheidung mit parlamentarischen Taschenspielertricks zu umgehen, wäre zutiefst undemokratisch.
Philipp Vetter ist Wirtschaftskorrespondent in Berlin. Er berichtet über das Bundeswirtschaftsministerium, Wirtschaftspolitik, Energiepolitik, Verkehrspolitik, Mobilität und die Deutsche Bahn. Seinen exklusiven WELTplus-Newsletter können Sie hier abonnieren. Er ist seit 2021 Co-Host des WELT-Podcasts „Alles auf Aktien“.
Source: welt.de