Weltweit schmücken sich Orte mit dem Glanz Venedigs
Kein Ortsname wird häufiger zweckentfremdet als der von Italiens berühmtester Hafenstadt – überall findet man Formulierungen wie „Venedig des Nordens“ und „Venedig des Ostens“. Noch dreister sind Venedig-Kopien in Asien und Amerika. Doch das Phänomen hat auch etwas Gutes.
Wäre Venedig eine Marke, hätte der Markeninhaber es schwer, sie zu schützen. Denn keine Stadt rund um den Globus wird von der Reiseindustrie häufiger vereinnahmt als Italiens populärstes Urlaubsziel an der Adria: Hat ein Ort ein paar Kanäle und Brücken zu bieten, schon wird er auf Tourismus-Websites und in Reisekatalogen als „Venedig des Nordens“, „Venedig des Ostens“, „Venedig des Südens“ angepriesen.
Der globale Venedig-Wahn geht noch weiter: Von Asien bis Amerika werden immer mehr kanaldurchzogene Kunstwelten gebaut und nach Venedig benannt. Auch diese Fake-Orte schmücken sich mit fremden Federn, um von Glanz und Gloria der Serenissima zu profitieren. Wenn Kopieren die höchste Form der Anerkennung ist, kann man der Perle der Adria zu ihrem beispiellosen Erfolg nur gratulieren.
Allein das „Venedig des Nordens“ ist dutzendfach vertreten. Einige Orte werben sogar offiziell mit diesem „Titel“, etwa das von Kanälen durchzogene Brügge auf seiner Tourismus-Website. Mit rund 80 Brücken kann die belgische Stadt allerdings nicht mit Venedig und seinen gut 400 Brücken mithalten. Andere Orte werden von Reiseveranstaltern als „Venedig des Nordens“ vermarktet, darunter das an Grachten reiche Amsterdam (1281 Brücken), Hamburg mit seinen vielen Kanälen und 2500 Brücken, ebenso Birmingham.
Birmingham? Oh ja. Die englische Stadt war im 19. Jahrhundert Zentrum der Industriellen Revolution. Für den Transport von Kohle, Eisen und anderen Gütern wurden damals viele Kanäle gebaut, zusammen sind sie 56 Kilometer lang – „man sagt, das sei mehr als in Venedig“, frohlockt der City Council auf seiner Website. Das englischsprachige Wikipedia listet insgesamt 37 „Venedigs des Nordens“ auf, darunter neben den genannten Amiens in Frankreich, Cork in Irland, Danzig in Polen und Haapsalu in Estland.
Ein paar Brücken und Kanäle – schon ist es ein Venedig
Auch das „Venedig des Ostens“ ist inflationär vertreten. Suzhou in der Nähe von Shanghai rühmt sich mit diesem Titel, weil auch dort viele Brücken und Kanäle zu finden sind. Im Vergleich zu seinen Konkurrenten kann Suzhou, auch bekannt als Seidenhauptstadt Chinas, sogar mit einem klaren Venedig-Bezug aufwarten: Marco Polo, Venedigs berühmtester Sohn, besuchte Suzhou im 13. Jahrhundert und pries die Stadt als eine der schönsten der Welt; besonders beeindruckten ihn die Kanäle. Auf denen werden Gäste heutzutage auf altmodischen Holzbooten durch die Gegend gestakt, und wenn dazu gesungen wird, dann auf Chinesisch.
In Asien steht Suzhou im Wettbewerb zu Bangkok mit seinen Klongs, wie die vielen Kanäle in Thailands Hauptstadt genannt werden. Dort und auf dem großen Fluss der Stadt, dem Chao Phraya, fahren Holzboote, deren schlanke Form an Gondeln erinnert. Statt von einem Gondoliere im Ringelhemd werden diese Longtail Boats jedoch von einem knatternden Außenbord-Motor angetrieben.
Was diverse Veranstalter und auch den Fernsehsender Arte nicht davon abhält, Bangkok als „Venedig des Ostens“ anzupreisen – dabei hat Thailands Kapitale mit ihren vielen ureigenen Attraktionen es überhaupt nicht nötig, mit Venedig verglichen zu werden.
In Indien buhlen gleich zwei Orte um diesen Titel: Udaipur in Rajastan, gesegnet mit malerischen Seen, Palästen und historischen Bauten, sowie Alappuzha im südindischen Kerala, bekannt für seine Backwaters, ein Netz aus Lagunen, Seen und Kanälen. Das englische Wikipedia zählt insgesamt sogar 44 „Venedigs des Ostens“, von denen die meisten allerdings gar keine Ähnlichkeit mit dem echten Venedig haben, außer dass sie von der einen oder anderen Wasserstraße durchzogen sind, etwa Barisal in Bangladesch, Banjarmasin in Indonesien oder Yanagawa im Süden Japans.
Seltener ist dagegen der Titel „Venedig des Südens“ vertreten. Bei Tripadvisor wird beispielsweise Puerto de Mogán auf Gran Canaria so angepriesen, immerhin ziehen sich hier ein paar Kanäle vom Hafen ins Ortsinnere. In Afrika wird Ganvié im Benin oft mit der Serenissima verglichen, weil auch dieses Wasserstädtchen auf Tausenden von Pfählen errichtet wurde.
Kopien in Form kitschiger Einkaufszentren
Sehr viel dreister ist die kulturelle Aneignung allerdings in den Venedig-Fakes, von denen Vietnam gleich zwei zu bieten hat: Einmal im 2020 eröffneten Vergnügungspark „Grand World Phu Quoc“ auf der Insel Phu Quoc, dessen Herzstück ein künstlicher Stadtteil mit bunten Häusern entlang des Venice Rivers ist, zum anderen Little Venice im „Mega Grand World“-Park nahe der Hauptstadt Hanoi.
In beiden Venedig-Kopien können Besucher in Gondeln einen Kanal entlangschippern und hinter pseudohistorischen Fassaden einkaufen und essen gehen. Die Website feiert das als „Kreuzfahrt zur Erkundung des florierenden Handelshafens“, was für eine simple Bootsfahrt mit Gelegenheit zum Shopping vielleicht etwas zu großspurig formuliert ist.
Zu nennen sind unbedingt noch die plumpen Venedig-Kopien chinesischer Immobilienentwickler in Form kitschiger Einkaufszentren, zu finden in Dalian, Hangzhou und Chengdu.
Anspruchsvoller, aber noch durchgeknallter sind die „Venetian Resorts“ in den Casino-Hochburgen Las Vegas und Macau. Rund um gigantische Spielsalons und Shopping-Malls wurden hier Venedig-Imitate hochgezogen mit historisierenden Fassaden, auf alt gemachten Brücken, einem unters Dach gemalten Canaletto-Himmel und einem künstlichen Canal Grande, durch den verkleidete Gondolieri Touristen rudern.
Außer Dogenpalast und Rialtobrücke wurde neben den gewaltigen Hoteltürmen sogar Venedigs berühmter Campanile nachgebaut. Mit 96 Metern ist der Turm in Las Vegas zweieinhalb Meter kürzer als das Original. Hat man sich hier etwa verrechnet? Oder wollten die Amerikaner bescheiden bleiben, anstatt wie sonst üblich noch ein paar Meter draufzulegen, um den Rekord zu knacken?
Was ist überhaupt das „echte“ Venedig?
Wer über so viel Künstlichkeit spottet, sollte nicht vergessen: Immerhin dürften die Imitate dazu beitragen, das Original zu entlasten, das inzwischen rund ums Jahr mit überfüllten Gassen, Plätzen und Hotels zu kämpfen hat. Jeder, der heutzutage ein Fake-Venedig besucht, verstopft das echte Venedig nicht.
Und was ist überhaupt das „echte“ Venedig? Am Ende ist die Stadt auch nichts anderes als eine große Inszenierung: Der Markusplatz mit seinen byzantinischen Bauten, die Paläste und Kirchen, die Brücken und Türme – zusammengenommen sind sie die steinerne Imagebroschüre einer nach Macht und Reichtum strebenden Dogenrepublik. Nicht einmal der heutige venezianische Karneval ist original. Im 19. und 20. Jahrhundert schlief der Brauch ein. Erst in den 1970er-Jahren wurde das pompöse Fest wiederbelebt – vor allem für die Touristen.
Dass der Lagunenstadt zudem ständig der Untergang prophezeit wird, sei es durch die Fluten der Adria oder durch unkontrollierte Touristenströme, ist Teil ihrer besonderen Anziehungskraft. Wie bei einer Oper von Puccini eilen Besucher aus aller Welt herbei, um die tragische Diva zu sehen, bevor der letzte Vorhang fällt. Dagegen helfen vermutlich weder Eintrittspreise für Tagesbesucher noch die Verbannung von Kreuzfahrtschiffen.
Vielleicht sorgen solche Maßnahmen sogar für noch mehr Aufmerksamkeit. Denn der morbide Charme der Vergänglichkeit fehlt den Kopien in China, Vietnam oder Las Vegas. In der Katastrophe zeigt sich das Original. Nur im Untergang ist Venedig ganz bei sich.
Source: welt.de