Welthandel: Chinas neue Helfer

Im Jahr 2018 zettelte der amerikanische Präsident Donald Trump einen Handelskrieg mit China an. In klassischer „Wie du mir, so ich dir“-Dynamik erhöhten die beiden Länder Zölle auf Handelsgüter im Wert von 450 Milliarden Dollar. Der Konflikt bedeutete eine Zäsur. Über Jahrzehnte hinweg waren Handelsbarrieren zwischen Ländern verringert oder komplett geschliffen worden. Dieser Prozess endete jäh. Außerdem schrumpfte der Handel zwischen den beiden größten Wirtschaftsnationen der Welt. Das ist wenig verwunderlich, schließlich gelten Trumps Zölle bis zum heutigen Tag – und sein Nachfolger Präsident Joe Biden erhöhte sogar die Handelsbarrieren.

Chinas Anteil an den amerikanischen Importen fiel zwischen 2017 und 2022 von 22 Prozent auf 16 Prozent, zeigt die Ökonomin Caroline Freund. Für Güter, die von der US-Regierung als strategisch eingestuft wurden, ist Freund zufolge der Rückgang sogar noch dramatischer: von 37 Prozent auf 23 Prozent. Besonders betroffen vom Rückgang waren naturgemäß Güter, die mit Zöllen belastet worden waren.

Die neue Handelspolitik der Vereinigten Staaten ist von der Idee getragen, sich von China speziell bei strategischen Gütern unabhängig zu machen sowie heimische Zukunftsindustrien zu päppeln und vor chinesischen Dumping-Attacken zu schützen.

Die Neuausrichtung produziert Chancen für Länder, als Exporteure in die Bresche zu springen und die Lieferlücke zu schließen, die China hinterlässt. So wartete Mexiko im Februar dieses Jahres mit einer Erfolgsmeldung auf: Im vergangenen Jahr löste das Land China als größten Handelspartner der USA ab – zum ersten Mal seit 20 Jahren. Weil Mexiko inzwischen in der Indus­trie niedrigere Lohnkosten als China aufweist, stellt sich die naheliegende Frage: Könnte das 130-Millionen-Einwohner-Land an der Südgrenze der USA das nächste China werden?

Doch nicht nur mit Mexiko verbinden sich hochfliegende Erwartungen. Auch Indien, Vietnam und Malaysia seien die Gewinner der amerikanischen Zölle, schreibt die Investmentbank Nomura in einem neuen Bericht. Weil die Spannungen zwischen den USA und China zunähmen, schauten sich die ausländischen Unternehmen mit Standorten in der Volksrepublik nach Alternativen in Asien um, um ihre Lieferketten zu diversifizieren, ihre Produktion nicht der Gefahr von Handelsbeschränkungen auszusetzen und sich gegenüber weiteren Sanktionen in der Zukunft abzusichern.

Die Verlagerung zeige sich vor allem bei Halbleitern, in der Automobilindustrie, bei der Herstellung von Elektronik und Investitionsgütern wie Maschinen sowie von Textilien und Spielzeug. Dabei helfen die vielen Milliarden Dollar an Subventionen, mit denen etwa die indische Regierung unter dem gerade wiedergewählten Ministerpräsidenten Narendra Modi die westliche Industrie von China in die Milliardennation zu locken versucht.

Abhängigkeit von China lässt sich nur schwer mindern

Während sich in den Ländern, die Chinas Exporte ersetzen, die Erfolgsmeldungen überschlagen, bleibt ein Fakt häufig unerwähnt: Vietnam und Co. erhöhten mit ihren Exporten speziell nach Amerika auch ihre Importe aus China, zum Teil dramatisch. Das gilt vor allem für das große Spektrum der elektronischen Güter, zeigt Handelsexpertin Freund. Mit anderen Worten: Um China als Exporteur zu ersetzen, haben die Länder Liefer- und Produktionsketten mit China aufgebaut und vertieft. Damit bleibt für die Amerikaner die unbequeme Erkenntnis, dass sich ihre Abhängigkeit von China nicht nennenswert vermindert hat. Die neue Rollenverteilung sieht überdies vor, dass zumindest einige der vermeintlichen Gewinner des Umbruchs im Welthandel zur verlängerten Werkbank Chinas werden.

Einige Länder vermögen es allerdings offenbar, mehr Eigenständigkeit zu entwickeln. Das 34 Millionen Einwohner zählende Malaysia wittert angesichts des sich immer weiter verschärfenden Konflikts zwischen den USA, Europa und China seine Chance. Die Zeiten, in der das Land vor allem mit Menschenrechtsverletzungen und der Zerstörung des Dschungels beim Anbau von Palmöl Schlagzeilen machte, sind vorbei. Schon seit einem halben Jahrhundert ist Malaysia ein wichtiger Standort in der Lieferkette der Halbleiterproduktion. Nun strömen aus den USA und Deutschland die ganz großen Investitionen in den muslimisch geprägten Staat, der es sich aufgrund seiner günstigen geographischen Lage zwischen dem Indischen Ozean und dem Südchinesischen Meer leisten kann, sich einen Freund der palästinensischen Terrororganisation Hamas zu nennen.

Der Chiphersteller Nvidia, gerade zum größten Unternehmen der Welt nach Börsenwert aufgestiegen, will mit umgerechnet vier Milliarden Euro ein Datenzentrum für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz bauen, was in der Branche als „Meilenstein“ im Aufbau der Technologieindustrie des Landes gewertet wird. Intel, das bereits seit über einem halben Jahrhundert in Malaysia produziert, hat angekündigt, dort für sieben Milliarden Dollar unter anderem in eine Fabrik für sogenannte 3-D-Halbleiter zu investieren, bei denen mehrere Chips aufeinander gestapelt werden, um bei weniger Platz die Leistung zu steigern.

Um am Boom der Elektroautoproduktion im Land und der Region zu verdienen, will der deutsche Halbleiterhersteller Infineon bis zum Ende des Jahrzehnts für fünf Milliarden Euro seinen Standort im malaysischen Kulim ausbauen. Insgesamt hätten deutsche Unternehmen neue Investitionen in Höhe von knapp neun Milliarden Euro im Land zugesagt, sagte der malaysische Handelsminister Zafrul Aziz im März der F.A.Z., nachdem Malaysias Regierungsspitze auf ihrer Roadshow in Deutschland neben einer Reihe deutscher Industrieführer wie Siemens-Chef Roland Busch auch den deutschen Bundeskanzler getroffen hatte.

Ungarn als Handelsplattform für Peking in Europa

Vietnam ist eher ein klassischer Fall. 2018, im Jahr der großen Zäsur, verzeichnete das Land Einfuhren aus China im Umfang von 65 Milliarden Dollar, berichtet das Datenportal Trading Economics. 2022 hatte sich der Wert der Einfuhren fast verdoppelt. Verdoppeln werden sich auch die Exporte des Landes bis 2030, schätzen die Nomura-Analysten. Das Land, das immer noch von einer Kommunistischen Partei beherrscht wird und jüngst mit gigantischen Korruptionsskandalen von sich reden machte, profitierte mit am meisten vom Handelskrieg, den der frühere Präsident Trump in seiner ersten Amtszeit mit China angezettelt hatte. Nachfolger Joe Biden hat nun abermals die Zölle auf Solarzellen aus China von 25 Prozent auf 50 Prozent erhöht, um den Importanteil aus der Volksrepublik noch weiter zu drücken. Längst stammen die in Amerika importierten Solarmodule aus Südostasien, wo neben Vietnam und Malaysia auch Thailand und Kambodscha in die Lücke gesprungen sind, die der faktische China-Bann gerissen hat.

Einen speziellen Blick verdient Ungarn. Das Land bietet sich Peking aktiv als Plattform für Handel mit der EU an – und damit als Gelegenheit, möglichen Brüsseler Zöllen auszuweichen. Das Land hofiert die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt schon seit Jahren. Die rechtspopulistische Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán schätzt die Partnerschaft, was auch beim jüngsten Besuch des chinesischen Präsidenten im Mai wieder einmal klar wurde. Während führende europäische Autonationen ihre Märkte schützen wollen, sieht Ungarn eine Gelegenheit, von Chinas fortschrittlichen, jedoch günstigen Elektroautos zu profitieren.

BYD, das Flaggschiff der chinesischen Elektroautoproduktion, errichtet eine Fabrik in Szeged im Süden des kleinen mitteleuropäischen Landes. Ein zweites Montagewerk in Europa könnte folgen. In den zurückliegenden Jahren haben auch andere chinesische Konzerne Investitionen versprochen. Dazu gehört der größte Batteriehersteller der Welt, Contemporary Amperex Technology, der im ungarischen Debrecen sein zweites europäisches Werk neben dem deutschen Standort in Erfurt errichtet.

Potential und Realität

Fast die Hälfte der chinesischen Direktinvestitionen in Europa sind nach einer am Donnerstag veröffentlichten Untersuchung des Berliner Mercator Institute for China Studies (Merics) im vergangenen Jahr nach Ungarn geflossen. „Der osteuropäische Staat zog damit mehr chinesische Investitionen an als die drei großen Volkswirtschaften Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammen“, hieß es. Gleichzeitig stiegen auch die Importe aus China von 2018 bis 2023 um 30 Prozent auf knapp 10 Milliarden Dollar.

Das Land aber, das von der Neubalancierung des Welthandels am meisten profitieren müsste, ist Mexiko. Es teilt mit den Vereinigten Staaten eine 3145 Kilometer lange Grenze, ein Freihandelsabkommen und eine gemeinsame Sprache. Rund 42 Millionen US-Amerikaner sprechen fließend spanisch, weitere 15 Millionen wenigstens rudimentär. Allerdings ist Mexiko auch das Land, in dem Potential und Realität traditionell besonders weit auseinanderklaffen. Kriminalität, Korruption und eine lähmende Bürokratie scheinen schwer ausrottbare Phänomene zu sein.

Wäre Mexiko plötzlich zu einem attraktiven Standort gediehen, hätte sich das in den Direktinvestitionen von Ausländern zeigen müssen. Die aber verzeichnen seit vielen Jahren kaum Bewegung, sagt David Gantz, Handelsexperte am Baker Institute in Houston, Texas. Im vorigen Jahr fielen sie sogar, zeigt eine Analyse der Federal Reserve von Dallas.

Das Ziel bleibt der US-Markt

Einige große Namen wie BMW oder Mattel verkündeten zwar Produktionsausweitungen, aber ein Boom ist weit und breit nicht erkennbar. Immerhin will der chinesische Autokonzern BYD eine Fabrik errichten, für den mexikanischen Markt, wie er versichert. Aber das glaubt keiner, sagt Gantz. BYD ziele eindeutig auf die USA.

Die Investitionszurückhaltung erklärt Gantz mit dem Misstrauen gegenüber der Regierung. Speziell im Energiesektor haben die Linkspopulisten, zu denen die designierte Präsidentin Claudia Sheinbaum gehört, ausländische Investoren verprellt, weil sie die Reform von 2013 zurückschraubten und die Monopolstellung der ineffizienten, hoch verschuldeten Staatskonzerne stärkten. Die Unsicherheit der Energieversorgung hemmt Investitionen. Als neue Bedrohung kommt hinzu, dass das Land wachsende Probleme hat, die Wasserversorgung sicherzustellen. Und schließlich zögern einige ausländische Konzerne mit Investitionen in Mexiko, weil sie offenbar Schwierigkeiten haben, Führungspersonal dorthin zu versetzen. Das räumte beispielsweise Elon Musk ein, dessen Fa­brikprojekt in Mexiko erst einmal aufgeschoben wurde.

Die Frage, ob Mexiko China ersetzen kann, beantwortet sich damit fast von selbst: nein. Ohnehin bleibt China weiter wichtigster Akteur in Lieferketten, die sich durch Zölle und andere Handelshemmnisse nur verlängert haben.