Weihnachten: Neujahr kommt früher, denn man denkt

Das neue Jahr beginnt wie immer am 24. Dezember. Und nichts spricht dagegen, die Wunderkerzen und Raketen schon am Heiligabend auszupacken. Mag ja sein, dass Weihnachten noch immer als Fest der Stille und Besänftigung gilt. Das ist ein zimtiger Irrtum. In Wahrheit ist Weihnachten ein Fest des Aufbruchs und der Befreiung: Endlich vergeht das Alte! Endlich soll, darf und kann etwas ganz anderes beginnen! Weihnachten, so sah es die Jüdin Hannah Arendt, ist der Anfang des Anfangs, neuer als jedes Neujahr.

Denn was wird da gefeiert? Für Christen, klar, ist es die Geburt des Erlösers, im Stall, bei Ochs und Esel, wird der ewige Gott zum vergänglichen Menschen, er zeigt sich ungeschützt und verletzlich. Eine verrückt paradoxe Botschaft: dass der Allmächtige seine Größe dadurch beweist, dass er sich säuglingsklein macht und also rührend ist und anrührbar wird. Auch kirchenferne Menschen dürfen sich darüber wundern: dass Christen nicht das Ewige und Unantastbare ins Zentrum ihres Glaubens rücken. Sondern den Augenblick des Zur-Welt-Kommens und der Arglosigkeit. Weihnachten meint ebenjenen unerhörten Augenblick eines jeden Menschen, in dem alles möglich scheint. Einen Moment größter Offenheit.

Wohl selten war die Sehnsucht nach solcher Offenheit größer als jetzt, wo alles schrecklich verfahren scheint: Wohin man schaut, wächst die Ungewissheit, verschärfen sich Konflikte, verhärten sich Fronten, die Bereitschaft zur Radikalisierung könnte größer kaum sein. Umso dringlicher braucht es Menschen wie Hannah Arendt, die als Jüdin während der NS-Zeit die grausamsten Erfahrungen machen musste und dennoch mit erstaunlicher Zuversicht auf den Menschen blickte. Mit einer Haltung des Trotzdems. Der Mensch sei, davon war Arendt überzeugt, „nicht geboren, um zu sterben, sondern im Gegenteil, um etwas Neues anzufangen“.

Wir müssen nicht bleiben, wie wir sind. Nichts muss so bleiben. Das war für Arendt die Verheißung der Geburtsnacht Jesu. Weihnachten als das Fest einer rundum belebenden Erinnerung: daran, dass alle Menschen, wirklich alle, einst Neuankömmlinge waren. Und sie weiterhin auf diese Kraft des Neuankommens und Neuansetzens vertrauen dürfen. Worte wie alternativ- oder aussichtslos gibt es bei Hannah Arendt nicht. „Wir können etwas beginnen“, schreibt sie, „weil wir Anfänge und damit Anfänger sind.“

Und nein, Hannah Arendt war nicht naiv, sie war eine gewitzte, hochpolitische Denkerin. Nie hätte sie angenommen, die Welt sei mit ein wenig Seelenschau und Weihnachtslametta zu retten. Viele Gesellschaftsdebatten trieb sie voran, oft mit umstrittenen Ideen. Und noch heute, fünfzig Jahre nach ihrem Tod, wird darüber diskutiert. Doch die großen Probleme ganz allein der politischen Sphäre zu überlassen, wäre ihr grundfalsch erschienen. Vehement appellierte sie an die Verantwortung der Einzelnen und warnte ihre Zeitgenossen, sich bloß nicht im selbstgerechten Groll- und Schmollwinkel zu verkriechen.

So wie mit der Geburt ein neuer Anfang möglich wird, kann auch mitten im Leben etwas Neues beginnen – erst recht für alle, die auf die Macht der Vergebung setzen, für Arendt ein „Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit“. Denn auch deshalb blickte sie mit einiger Faszination auf die christliche Religion und ebenso auf die Weihnachtsnacht, auf Jesus von Nazareth: Er brach mit der herrschenden Vergeltungslogik seiner Zeit und machte die Idee der Vergebung zu seinem Leitprinzip.

Schon damals, vor 2.000 Jahren, steckten viele Menschen fest im ewigen Wiederholungszwang aus Gewalt und Rache und wieder Gewalt. Der Krieg schien schicksalhaft zu sein, und immerzu blutige Opfer zu bringen, schien unausweichlich, um die Götter friedlich zu stimmen. Die Geschichte, eine Endlosschleife, es gibt kein Voran.