Was heißt Totalsanktionierung im Bürgergeld? Wohnung? Heizung? Eine Juristin klärt aufwärts
Die Bundesregierung unter Friedrich Merz (CDU) und Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) plant, Totalsanktionen gegen Bürgergeld-Empfänger:innen einzuführen. In einem Leak des Gesetzesvorhabens ist die Rede einer kompletten Streichung der Leistung, wenn „zumutbare“ Jobs abgelehnt werden.
Obwohl ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2019 Totalsanktionen bereits für teilweise verfassungswidrig erklärt hat, tauchen sie in den Plänen der Regierung auf. Die Rechtsprofessorin Andrea Kießling erklärt im Gespräch, was aus dem Urteil folgt, wie Schwarz-Rot Totalsanktionen rechtlich trotzdem durchsetzen kann und warum auch das Gerichtsurteil kritisch zu betrachten ist.
der Freitag: Frau Kießling, die Regierung von Friedrich Merz plant, Totalsanktionen gegen Bürgergeld-Empfänger:innen einzuführen. Wie bewerten Sie das als Rechtswissenschaftlerin?
Andrea Kießling: Die Bundesregierung müsste bei dem Wort „Totalsanktion“ erst einmal erklären, was genau damit gemeint sein soll. Denn beim Bürgergeld haben wir einmal den Regelsatz und dann die Kosten für Unterkunft und Heizung, die das Wohnen ermöglichen. Der Regelsatz ist die Summe an Geld, die man überwiesen bekommt und wovon man sich Essen, Kleidung und alles Weitere kauft.
Bei den Sanktionen, die wir vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2019 hatten und nach der Einführung des Bürgergeldes haben, ging es immer darum, den Regelsatz zu kürzen. Im letzten Jahr hat auch die Ampelkoalition schon Totalsanktionen eingeführt, aber für maximal zwei Monate. Auch diese Totalsanktion umfasst den Regelsatz; Unterkunft und Heizung werden weiterhin gezahlt. Aber dieser Geldbetrag fällt dann komplett weg. Die Frage ist nun, ob die aktuelle Bundesregierung „total“ auch in zeitlicher Hinsicht meint und ob sie die Zahlungen für Unterkunft und Heizung streichen wollen würde. Das hätte natürlich nochmal eine ganz andere Schlagkraft.
Wie konnte die Ampelkoalition trotz des Verfassungsurteils Totalsanktionen einführen?
Die Totalsanktionen, die im letzten Jahr eingeführt wurden, sehe ich sehr kritisch. 2019 hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die damaligen Sanktionsmöglichkeiten in Höhe von 100 Prozent und 60 Prozent des Regelsatzes verfassungswidrig waren. Als vertretbar wurde hingegen eine Sanktionierung von 30 Prozent eingestuft. Der Grund war damals nicht, dass diese Sanktionen von Grund auf verfassungswidrig wären, sondern dass es nicht genügend Studien gab, die belegen konnten, dass diese Sanktionen ihren Zweck auch wirklich erfüllen, also die Menschen in Arbeit bringen, um damit die eigene Bedürftigkeit zu überwinden.
Das Urteil enthielt eine Passage ganz am Ende, in der das Gericht betonte, dass Personen, die ein konkretes Arbeitsangebot ablehnen, anders beurteilt werden dürfen, und zwar als nicht bedürftig. So müsste der Staat nicht für sie aufkommen. Auf diese Passage hat sich im letzten Jahr die Ampelkoalition gestützt, um dann doch in einem Umfang von 100 Prozent des Regelsatzes kürzen zu können.
Es gibt gleichzeitig Studien, die belegen, dass Sanktionen eben nicht helfen, die Leute wieder in Arbeit zu bringen. Der Verein „Sanktionsfrei“ hat zum Beispiel kürzlich erst eine solche groß angelegte Studie durchgeführt.
Solche gegenläufigen Studien, die zu einem anderen Ergebnis kommen, muss man natürlich auch berücksichtigen. Sie zeigen, dass das Bild der Politik von Bürgergeldempfänger:innen nicht unbedingt der Realität entspricht. So, als würden die meisten von ihnen aus Trotz die Arbeit verweigern.
Für mich sieht das aus wie Symbolpolitik
Wenn Studien zeigen, dass die Gründe, weswegen Menschen Bürgergeld beziehen und ihren Mitwirkungspflichten nicht nachkommen, wesentlich vielschichtiger sind, dann muss das Gesetz so formuliert werden, dass diese Vielschichtigkeit erfasst wird und niemand in das Netz der Sanktionen gerät, der die tatsächlichen Folgen der Sanktionen nicht auffangen kann. Schon die jetzige Regelung aus Zeiten der Ampelkoalition verhindert nicht, dass auch Personen totalsanktioniert werden können, die beispielsweise wegen psychischer oder anderer gesundheitlicher Probleme durch das Raster des Systems gerutscht sind und es nicht schaffen, mit dem Jobcenter zu kommunizieren oder generell zu arbeiten. Damit trifft man letztlich die Falschen.
Es sind ja auch die Wenigsten, die sich wirklich weigern, zu arbeiten.
Das kommt noch hinzu. Es ist ja nicht so, dass 90 Prozent sich verweigern, sondern das ist nur ein sehr kleiner Teil der Gesamtbezieher:innen. Ein weiteres Problem sehe ich, wenn Totalsanktionen mit haushaltspolitischen Erwägungen begründet werden, wenn also sanktioniert werden soll, um Geld zu sparen. Beim Bürgergeld muss immer mit der Bedürftigkeit bzw. der Überwindung der Bedürftigkeit argumentiert werden. Aber wenn man in dieser Logik der Einsparungen bleibt, muss man auch sehen, dass die Umsetzung dieser bereits eingeführten Totalsanktionen unweigerlich Kosten produziert.
Jeder Einzelfall muss schließlich genau geprüft werden: Es muss ein konkretes Arbeitsangebot gegeben haben, das abgelehnt wurde, und sobald der Arbeitgeber den Job an eine andere Person vergeben hat, muss die Sanktion wieder aufgehoben werden. Vielleicht würde dieser Mehraufwand in den Jobcentern sogar mehr Kosten verursachen, als die Sanktionen am Ende einsparen würden. Für mich sieht das aus wie Symbolpolitik.
Im BVerfG-Urteil von 2019 wurde beschlossen, dass ein Existenzminimum immer gewährleistet sein muss, um nicht die von der Verfassung geschützte „Würde des Menschen“ anzugreifen. Wie kann es dann rechtens sein, dieses Minimum auch nur um 30 Prozent zu kürzen?
Das ist eine sehr gute Frage und das ist genau der Kern der Kritik an der Rechtsprechung. Wir haben einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums. Das Wort „Minimum“ sagt eigentlich, dass wir die unterste Grenze definieren. Wenn die Gesetzgebung bei der Umsetzung dieses verfassungsrechtlichen Anspruchs großzügig ist und zum Beispiel 20 Euro mehr als das Minimum festlegen würde, dann wäre es einfacher, diese 20 Euro wieder zu streichen. Ich unterstelle der Gesetzgebung aber, dass sie mit der Höhe des jeweils aktuell geltenden Regelsatzes immer nur das Minimum festlegen will.
Sanktionen dürfen nicht als Strafe konzipiert sein
Das Bundesverfassungsgericht, was für die Auslegung unserer Verfassung das maßgebliche Organ ist, sagt ausdrücklich: Sanktionen stellen eine außerordentliche Belastung dar; die Betroffenen erhalten weniger, als ihnen grundrechtlich gesichert zusteht. Das Bundesverfassungsgericht legt also offen, dass durch die Sanktionen das Existenzminimum unterschritten wird; dies wird nicht durch eine dogmatische Konstruktion verschleiert. Es hält Mitwirkungspflichten und Sanktionen aber für zulässig, wenn diese dem Zweck dienen, die eigene Bedürftigkeit zu überwinden.
Einen anderen Zweck dürfen sie nicht verfolgen, Sanktionen dürfen nicht als Strafe konzipiert werden, sondern müssen immer der Idee folgen, die Menschen aus der Bedürftigkeit herauszuholen. Diese Argumentation hat nicht alle überzeugt: Man kann natürlich immer noch fragen, warum das Existenzminimum nicht als absolutes Minimum zu verstehen ist.
Wie könnte die Merz-Regierung diese Totalsanktionen trotzdem einführen?
Hier gibt es zwei Anknüpfungspunkte: Eine Möglichkeit der Bundesregierung wäre es, besagte Studien vorzulegen, die belegen, dass Totalsanktionen helfen, Menschen im Bürgergeldbezug in Arbeit zu bringen. Solche Studien hat man letztes Jahr aber schon nicht angeführt und ich kann mir nicht vorstellen, dass die neue Regierung neue Erkenntnisse hat. Und da kommen wir wieder zur Anfangsfrage: Wie soll denn diese Totalsanktion aussehen? Wenn es dabei auch um Unterkunft und Heizung gehen sollte, möchte ich die Studien sehen, die zeigen, dass wir Leute besser in Arbeit bekommen, nachdem sie wegen der Sanktionen obdachlos geworden sind.
Die zweite Möglichkeit knüpft an die erwähnte Passage des Urteils an, die Leistungen entfallen zu lassen, wenn eine Person ein konkretes Jobangebot ablehnt. Hier hat das Bundesverfassungsgericht aber bestimmte Voraussetzungen festgelegt: Dieses Angebot muss zumutbar sein. Genauso muss die Person die Möglichkeit haben, noch einmal die eigene persönliche Situation zu schildern, um darlegen zu können, dass ein Fall vorliegt, in dem man nicht sanktionieren sollte. Außerdem verstehe ich die Passage so, dass man mit diesem Arbeitsplatzangebot komplett den Lebensunterhalt wird sichern können müssen, um nicht noch aufstocken zu müssen. Die Ampelregierung hatte die Passage aber so ausgelegt, dass das Aufstocken reicht. Damit habe ich ein Problem.
Wenn Sie einen Reformvorschlag machen könnten für eine menschenwürdige Grundsicherung, wie würde der aussehen?
Es sollte versucht werden, so viel Einzelfallgerechtigkeit herzustellen, wie es geht. Der Gesetzgeber darf typisierende, pauschale Regelungen treffen, aber da, wo das menschenwürdige Existenzminimum im Kern betroffen ist, braucht es doch mehr Einzelfallgerechtigkeit als bei der Regelsatzberechnung.
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Prof. Dr. Andrea Kießling leitet den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Migrationsrecht. Sie ist Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Europäische Gesundheitspolitik und Sozialrecht (ineges).