Warum spielt es eine so große Rolle, welche Kleidung arme Menschen tragen?

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46,72 Euro stehen Bürgergeld- oder Grundsicherungsempfänger*innen monatlich für Bekleidung und Schuhe zur Verfügung. Für Lebensmittel sind 195,35 Euro für eine erwachsene Person im Regelsatz vorgesehen. Sie können sich vorstellen, dass fast ständig in anderen Bereichen gespart wird, oder das Bekleidungsgeld anderweitig genutzt wird. Gerade bei chronischen Erkrankungen kommen Einzelpersonen nicht mit dem dafür vorgesehenen Regelsatz von 21,48 Euro für Gesundheit und Pflege aus.

Wenn arme Menschen sparen, dann geschieht das leider oft auf Kosten der Gesundheit, wie durch den Konsum von billigen Lebensmitteln. Viele Armutsbetroffene haben keine Alternative. Der Bürgergeldsatz ist bei längerfristigem Bezug zu gering bemessen. Wenn nicht am Essen gespart wird, dann an der Bekleidung und Schuhen.

In der ersten Zeit als armutsbetroffene Person sind diese noch gut und können abgetragen werden. Es gibt Arme, die hochpreisige und qualitativ hochwertige Markenkleidungsstücke noch aus ihrer Zeit vor der Armutserfahrung besitzen. Genau das scheint einigen Menschen ein Dorn im Auge zu sein, wenn sie erfahren, dass die Person, die diese teure Kleidung trägt, arm ist. Ironischerweise wird Menschen mit Markenkleidung oder -schuhen oft ihre Armut abgesprochen. Das Gleiche erleben Armutsbetroffene mit aufwendigen Tattoos.

Ich habe auf den Plattformen X (vormals Twitter) und Bluesky nach Erfahrungen gefragt und bekam haarsträubende Antworten: Eine Armutsaktivistin, die in einer Fernsehsendung einen Auftritt hatte, berichtete, dass der Fernsehsender von mehreren (!) Menschen angeschrieben wurde. Der Tenor: diese Frau hätte den Sender getäuscht, denn sie könne nicht armutsbetroffen sein. Sie habe ja ein gut gestochenes, größeres Tattoo! Eine andere Erfahrung kenne ich von einer Helferin, die mit Geflüchteten arbeitet. Ihren Klient*innen werden die Marken-T-Shirts geneidet. Es stellte sich heraus, dass dieser Geflüchtete zwei Adidas-Shirts besaß, die er regelmäßig trug und per Handwäsche im Waschbecken reinigte. Mehr T-Shirts besaß er zu diesem Zeitpunkt nicht, daher pflegte er sie gut.

Sozialneid, der wieder mal nach unten tritt

Seitdem ich als Aktivistin mit meiner Armutserfahrung in die Öffentlichkeit gegangen bin, erlebe ich Absurdes: Es gibt Menschen, die meine Kleidung googeln, um zu schauen, ob es teure Marken sind. Dass eine Armutsbetroffene ein Kleid der Marke X trägt, welches gebraucht etwa 40 Euro kosten würde, scheint ein absoluter Skandal zu sein. Dass ich genau dieses Kleid auf einer Secondhand-Verkaufsplattform für weniger Geld erstanden habe – auf die Idee kam die Userin nicht. Meine geliebten Gore-Tex-Sneaker sind ebenfalls oft Thema. Eine Armutsbetroffene, die die teure Marke Ecco trägt? Wie soll das finanziell gehen?

Die Frage für mich ist: Warum spielt es so eine große Rolle, was für Kleidung Arme tragen? Ist es Sozialneid, der wieder mal nach unten tritt? Fehlt es an Vorstellungskraft, über den Tellerrand hinaus zu denken? Warum ich diese speziellen Schuhe trage? Ich lege Wert auf Qualität, habe breite Füße und muss medizinische Einlagen tragen. Es gibt wenige breit geschnittene Damenschuhe, daher priorisiere ich Ecco und Gabor.

Ich kaufe diese Schuhe in sehr gutem gebrauchten Zustand. Wenn man wenig Geld zur Verfügung hat, nutzt man alle Möglichkeiten, um zu sparen. Gerade was Bekleidung angeht, so gibt es viele Angebote, die qualitativ aber sehr unterschiedlich sind: Kleiderkammern, Sozialkaufhäuser, Flohmärkte, besonders Kinderkleider – und Familienflohmärkte, auf denen man günstig einkaufen kann. Wer auf dem Land wohnt und/oder behindert ist, der hat leider kaum Zugang zu solchen Angeboten. Dann hilft, insofern das Wissen und die technischen Voraussetzungen vorhanden sind, das Internet mit zahlreichen Secondhand-Angeboten: Outlets von bekannten Marken oder Secondhand-Angebote auf Plattformen wie Vinted, Ebay, Kleinanzeigen oder Sellpy.

Klischeebilder über arme Menschen

Die meisten armutsbetroffenen Menschen kleiden sich so, dass sie nicht auffallen. Die Scham über die eigene Lebenssituation ist unangenehm genug, daher möchten sie nicht auffallen. Ihre Armut sieht man ihnen in den seltensten Fällen an. Erst wenn sich die Armutssituation verschlimmert, dann ist vorhandene Kleidung ausgewaschen, mürbe und/oder löchrig. Es gibt Menschen, die trauen sich dann aus Scham kaum noch aus dem Haus.

In den Köpfen vieler Leute existiert ein Klischeebild, wie Armut auszusehen hat. Nicht von Armut Betroffene denken an Billigkleidung und an billige, vorwiegend abgetragene Schuhe.

Wie stellen sie sich eine Person vor, wenn sie an Armut denken?

Ist das Problem, dass Arme mit teurer Kleidung nicht dem Klischee entsprechen?

Ist das Kapital an meinem Körper etwas, was mir nicht zusteht? Warum?

Dass finanziell schwache Menschen durchaus Wert auf Qualität legen, scheint unbekannt zu sein. Dass diese Menschen vor ihrer Armutserfahrung bessergestellt waren, kommt den Bewertenden oft nicht in den Sinn. Und dass es wirklich kostengünstige gebrauchte Markenkleidung gibt, das ist für nicht von Armut Betroffene, die nicht auf jeden Cent achten müssen, scheinbar unvorstellbar.

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet ihre Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau. In ihrer regelmäßigen Kolumne auf freitag.de berichtet sie über den Alltag mit zu wenig Geld, über die Sozialpolitik aus der Perspektive von unten, über den Umgang mit ihrer Depression und über das Empowerment durch das Netzwerk #ichbinarmutsbetroffen: @armutsbetroffen