Warum so viele Inder in die Schweiz wallfahren
Bollywood-Produzenten drehen gern in der Schweiz. In den dortigen Orten knallen dann die Sektkorken, denn jeder Film garantiert Scharen indischer Reisender, die die Filmsets im Original erleben wollen. Wir haben einen indischen Fan auf seiner Tour begleitet.
Es ist nur eine unscheinbare Metallbrücke im Örtchen Saanen bei Gstaad, wie es sie wohl hundertfach in der Schweiz gibt, doch für den 33-jährigen Reiseveranstalter Mohd Naved aus Delhi ist sie ein Wallfahrtsort. Denn hier wurde eine Szene des legendären Films „Dilwale Dulhania Le Jayenge“ („Wer zuerst kommt, kriegt die Braut“) mit Superstar Shah Rukh Khan und seiner Partnerin Kajol von 1995 gedreht, der für Generationen von Indern zum Bollywood-Kultfilm wurde. Bollywood steht für die Hindi-Filmindustrie, deren Wurzeln in Mumbai (Bombay) liegen und die mit indischen Superstars jährlich Hunderte Kinohits produziert.
Im Maratha-Mandir-Kino in Mumbai wird der Film, der auch unter dem Kürzel DDLJ bekannt ist, mittlerweile seit mehr als 1400 Wochen gezeigt. Man munkelt zwar, dass Shah Rukh Khan das Weiterleben dieses legendären Films im Hintergrund mitfinanziert, doch nach knapp 30 Jahren auf dem Spielplan kommen immer noch täglich rund 30 Zuschauer, die jede Zeile mitsprechen und jedes Lied mitsingen können. Wie auch Mohd. Gerade hat er auf seiner Europareise Berlin, Paris, Rom und Venedig besucht, doch noch beeindruckender als Eiffelturm und Petersdom seien für ihn als glühendem Bollywood-Fan die Destinationen, die er aus seinen Lieblingsfilmen kennt, sagt er.
Und nun steht er endlich auf dieser unscheinbaren Brücke in Saanen, wo sich Raj und Simran in der letzten Szene des DDLJ-Films tanzend und tränenreich voneinander verabschieden. Mohds Herz rast. Ein Poster am Geländer der Brücke besagt, dass dieser Ort bedeutsam für die Bollywood-Filmgeschichte ist – und damit einer der populärsten Orte für Schweizreisende aus Indien.
An dem Tag, an dem sich Mohd auf der Brücke stolz neben dem Poster fotografieren lässt, posiert noch eine weitere indische Familie mit ihrer kleinen Tochter vor dem ikonischen Flusslauf. Ein Bauer, der auf einem Traktor über die Brücke rumpelt, muss höllisch aufpassen, die begeisterten Fans nicht umzufahren. Er muss dennoch lachen über dieses seltsame Interesse der Inder an einer Brücke, die unauffälliger nicht sein könnte.
Doch für Mohd ist es ein Stück Filmgeschichte, das er nun live erleben darf. Der indische Familienvater ruft grinsend zu Mohd herüber: „Ich glaube, wir sind aus demselben Grund hier?“ „Klar“, antwortet Mohd selig lächelnd.
Film-Fans aus Indien spielen Szenen nach
Später treffen sich die Familie und der Reiseveranstalter an der Dorfkirche von Saanen wieder. Dort sucht noch eine andere Familie aus Indien nach der Eingangstür. Auch hier wurde eine unvergessliche DDLJ-Szene gedreht.
Ebenso im zwei Kilometer entfernten Gstaad: Dort ließen sich die Filmhelden mit einer Pferdekutsche über die nächtliche Promenade chauffieren, planschten im Schwimmbad und gerieten im Bäckerladen von „EarlyBeck“, den es auch heute noch gibt, in heftigen Streit. Der Hintergrund zum in ganz Indien berühmten Song „Zara Sa Jhoom Loon Main“ wurde größtenteils hier gedreht.
Auf dem Weg dorthin, auf einem Pfad entlang des Flusses, nimmt Mohd ein paar Videos mit Dance-Moves aus DDLJ für Freunde und Follower auf – für indische Filmtouristen ein Muss. Das Netz ist voll von solchen nachgespielten Szenen. Auf manchen dieser Videos leuchtet das Grün der Alpenwiesen noch satter als in den Bollywood-Filmen.
Rund 600.000 Reisende aus Indien haben laut Schweiz Tourismus 2023 das Land besucht. 2019, vor Corona, lag die Zahl bei knapp 800.000. Zürich, die Zentralschweiz und die Berner Region sind die Hauptziele. „Seit Mitte der 90er-Jahre kann man einen starken Zuwachs an indischen Touristen in der Schweiz feststellen“, sagt Jörg Peter Krebs, Direktor Zentraleuropa & Mittlerer Osten bei Schweiz Tourismus, „die Bilder und Szenen aus Bollywood-Filmen haben mit Sicherheit dazu beigetragen, dass die Schweiz zum Sehnsuchtsort für Inder geworden ist.“ Vor allem als Ziel von Hochzeitsreisen, aber auch als Belohnung für verdiente Mitarbeiter, sei die Schweiz enorm beliebt.
Längst haben sich Schweizer Veranstalter erfolgreich auf das Thema spezialisiert. Zum Beispiel Erwin Fässler von Erwin Tours of Switzerland. Er brennt selbst für das Thema – neben einer DDLJ-Tour bietet er auch eine zweitägige Bollywood-Tour von Zürich aus an, die die Filmfans nach Luzern, Interlaken, ins Berner Oberland, aufs Jungfraujoch und hinunter nach Saanen und Gstaad führt. Seine „The King of Romance“-Tour folgt den Spuren des legendären Regisseurs Yash Chopra. Seinen indischen Kunden verspricht er, sie könnten ihm einfach ein Foto oder einen Filmausschnitt ihrer Lieblingsszene senden, und er werde sie dorthin bringen.
In Gstaad bietet Veranstalter Bollywood Tour Kurztrips für eilige Reisende zu Dreh-Locations an, inklusive indischem Chai und Frühstücks-Paratha und dem gemeinsamen Schauen von Filmausschnitten, bevor man nach Gstaad, Saanen, Rougemont, und Lauenen aufbricht.
Wie die Schweiz zur beliebten Kulisse wurde
Warum hat sich Bollywood ausgerechnet die Schweiz als Drehort für indische Filme ausgesucht? Der Norden Indiens bietet doch auch einige grüne Bergregionen? Der Hauptgrund ist politischer Natur. Vor allem die Szenen aus dem Berner Oberland sollen Aufnahmen aus Kashmir ersetzen, eine Region, in der es durch den Konflikt Indiens mit Pakistan seit den frühen 1960ern nicht mehr möglich war, zu drehen.
Mit Raj Kapoor kam der erste Regisseur schon 1964 in die Schweiz, um hier den Film „Sangam“ zu drehen. Yash Chopra, der in Indien als „King of Romance“ bekannt ist, hat ab den 1980er-Jahren mehr als ein Dutzend Filme in der Schweiz gedreht. Es ist hauptsächlich ihm zu verdanken, dass das Alpenland bei Indern den Status eines romantischen Kultreiseziels erlangt hat. 2002 erhielt Chopra den „Swiss Filmfare Award“. Interlaken setzte dem Regisseur ein besonderes Denkmal, wortwörtlich: In der Stadt steht eine Statue des Filmemachers. Und im „Grandhotel Victoria-Jungfrau“ kann man sich in der Yash-Chopra-Suite von der anstrengenden Wallfahrt erholen.
Ab den 1980er-Jahren wurden mehr als 170 Bollywood-Filme in der Schweiz gedreht. Meist wurden jedoch nur für eine kleine Anzahl von Außenaufnahmen Schweizer Kulissen gewählt. 2003 wurde zum ersten Mal ein Film vollständig in der Eidgenossenschaft gedreht: Rajiv Rais „Asambhav“ („Das Unmögliche“) spielt im Tessin. DDLJ wurde zu 60 Prozent in der Schweiz gedreht.
Wenige Wochen nach der Rückkehr von seiner Bollywood-Pilgerfahrt in die Schweiz sitzt Reiseveranstalter Mohd Naved wieder in einem Kino in East Delhi. Der Shah-Rukh-Khan-Klassiker „Veer Zaara“ ist zum 20-jährigen Jubiläum des Filmstarts wieder in die Kinos gekommen. Die Szenen zum Song „Yeh Hum Aa Gaye“ wurden oberhalb des Lauenener Sees im Berner Oberland aufgenommen, das Publikum ist begeistert.
Im Kino ist Mohd umgeben von Menschen, die ihr Leben lang vergeblich davon träumen werden, einmal dorthin zu reisen, denn noch immer können sich die wenigsten Inder eine Europareise leisten. Er sei glücklich, dass er gerade da war, sagt Mohd. „Es sah dort so aus wie in einem Bollywood-Film.“
Weitere Informationen:
Bollywood-Hotspots in der Schweiz: swissinfo.ch/eng/culture/switzerland-s-bollywood-hotspots/41340554
Bollywood-Touren: Erwin Tours of Switzerland (erwintours.ch/tour-category/bollywood-tours/), Bollywood Tour Gstaad (bollywoodtour.ch), Tour Operator Mohd Naved, Delhi (mnindiatrips.com)
Auskunft: Gstaad Saanenland Tourismus (gstaad.ch), Schweiz Tourismus (myswitzerland.com)
Source: welt.de