Warum Martina Hefter den Deutschen Buchpreis verdient hat

Martina Hefter hat den Deutschen Buchpreis gewonnen. Und das völlig verdient: Sie hat mit Hey guten Morgen, wie geht es dir? einen Roman geschrieben, der existenzielle Probleme verhandelt, dabei sprachlich wunderbar leicht daherkommt und über sich hinausstrahlt. Sie erzählt darin von nigerianischen Lovescammern, dem prekären Leben im Kulturbetrieb, dem Zusammenleben mit einem Menschen mit Behinderung und lässt ihre Protagonistin Juno ganz nebenbei erklären, wieso es okay ist, schon im September das Weihnachtsspekulatius im Supermarkt zu kaufen.

Den Diskurs seit der Preisverleihung dominiert dennoch ein anderer: Clemens Meyer. Nicht nur im Freitag (durch Michael Hametner), sondern auch in der FAZ (Andreas Platthaus), in der Zeit (gemeinsam von Adam Soboczynski und Nele Pollatschek), zweimal in der SZ (Hilmar Klute und Cornelius Pollmer), in der Welt (Mara Delius) und NZZ (Paul Jandl) wurde über ihn diskutiert. Zahlreiche Interviews mit Meyer selbst wie im Spiegel kamen obendrauf.

Und so verständlich es ist, dass das Feuilleton über einen Autor berichtet, der aufs Übelste fluchend und schimpfend von einer Preisverleihung stürmt, so sehr bleibt doch die Frage, wie hoch der Nachrichtenwert dieses Verhaltens tatsächlich ist. Die Debatte, die sich daran anschloss, war jedenfalls nicht davon geprägt, wie angemessen Meyers Wortwahl war, sondern vom mal unterschwellig, mal ganz offen kommunizierten Tenor: Eigentlich hätte sein Roman Die Projektoren den Preis verdient gehabt.

Der Blick ins Herz der Finsternis

Deshalb verwundert es umso mehr, dass in allen Texten, die sich für Meyer starkmachen, eine Auseinandersetzung mit der Frage fehlt, was Die Projektoren auf literarischer Ebene eigentlich besser macht als die restlichen Shortlist-Titel. Michael Hametner hält zwar fest, dass Meyer „ins Herz der Finsternis blickt“ und pflichtet damit Mara Delius bei, für die Meyers Roman „der schonungslose Blick auf eine von Regression in brutalste Barbarei bedrohte Welt als Ganze“ ist.

Aber stimmt das nicht auch für Ronya Othmanns Vierundsiebzig? Die seit dem vom IS verübten Völkermord an den Jesiden 2014 für ihren reportagenhaften Roman recherchiert und dabei auf über 500 Seiten versucht, eine Sprache für das Unaussprechliche zu finden. Wieso sollte das kein „Blick in das Herz der Finsternis“ sein?

Oder wenn Cornelius Pollmer in der SZ feststellt, dass „die Kunst des Monteurs Meyer [darin] besteht […], dass er unheimlich viel anbietet unterwegs bei diesem langen Aufstieg. Man weiß dann zwar nicht immer, worauf man noch neugierig ist, aber man bleibt es.“ Stimmt das denn nicht auch für Maren Karmes? Die mit Hasenprosa einen Text geschrieben hat, der die Grenzen des klassischen Romans sprengt und dafür eine Sprache findet, die zwischen erzählender Prosa und surrealer Lyrik changiert. Wieso ist Die Projektoren angesichts Karmes‘ sprechendem Hasen, der durch den Kosmos und die Erdzeitalter schwebt, „der gewagteste“ Roman der Shortlist wie Hametner impliziert?

Wenn es einen solchen Ausraster der Nominierten als Debattenanstoß braucht, dann ist das als Zeugnis für den Zustand des deutschen Feuilletons recht niederschmetternd.

Und wo war der mediale Aufschrei im vergangenen Jahr, als Tonio Schachinger mit seiner Coming-of-Age-Geschichte Echtzeitalter, die zwischen einem Wiener Eliteinternat und dem Computerspiel Age of Empires 2 spielt, sich gegen Anne Rabes hochpolitischen Roman Die Möglichkeit von Glück, der die Gewaltkontinuitäten der vergangenen 80 Jahre in der DDR und Ostdeutschland erzählt, durchsetzte Klar, Rabe war nicht wutentbrannt fluchend aus dem Frankfurter Römer gestapft – Aber wenn es einen solchen Ausraster der Nominierten als Debattenanstoß braucht, dann ist das als Zeugnis für den Zustand des deutschen Feuilletons recht niederschmetternd.

Von motzenden Genies

Das alles zeigt, dass die aktuelle Debatte, die sich nur um die Persona Clemens Meyer und seinen Roman dreht, am Ende vor allem eine misogyne ist. Weil sie eben kein Streit um die beste, dringlichste, gegenwärtigste Literatur – oder welche Superlative man sonst anbringen will – ist, sondern im Kern ein Kulturkampf um eine ganz bestimmte Autorenfigur: Die Verteidigung des großen, motzenden Schriftstellers, der auf die Benimmregeln des Betriebs scheißt und einsam und unnachgiebig um jedes Wort seines Textes ringt.

Deswegen werden die vielen Jahre, die Meyer an Die Projektoren gearbeitet hat, so ostentativ herausgestellt, während sie bei Othmann kein Argument für die Preiswürdigkeit ihres Schreibens zu sein scheinen. Dieser Diskurs bedient die uralte Erzählung des Großschriftstellers als Genie, dem man aufgrund seiner Genialität die emotionalen Ausbrüche nicht nur durchgehen lässt, sondern sie als Verlängerung seines Schaffens sogar feiert.

Die Verehrung dieser spezifischen Autorenfigur wird bei niemandem so deutlich wie bei Cornelius Pollmer: „Im Sommer, auf einer publizistisch inzwischen bis auf die Knochen ausgeweideten Busfahrt seines Verlags von Leipzig nach Berlin, ließ sich das mal wieder beobachten. Man stand erst um den Bus herum, es waren – wie man das von Meyer erwartet, ohne je enttäuscht worden zu sein – neben dem üblichen Personal aus Buchhandel und Journalismus auch ein paar angenehm undurchsichtige Gestalten dabei, seltene Sonnenbrillen, gegelte Haare.“

Würde man den Anspruch an die reine Literatur, die immer wieder beschworen wird, ernst nehmen, müsste man das Für und Wider aller sechs Shortlist-Bücher gegeneinander abwiegen – und genau dafür in deutschsprachigen Feuilletons den Raum schaffen.

Wer braucht schon Recherche?

Was viele dieser Texte neben ihrer Meyer-Fixierung außerdem eint, ist ihr mangelndes Interesse an fundierter Recherche. Aber wer braucht im Kampf für den Großautor schon Fakten? Wenn Michael Hametner sagt, dass ihn Blutbuch von Kim de l’Horizon erreicht habe, aber eben nicht den Buchhandel, dann ist das schlicht und ergreifend falsch. Keine zwei Wochen nach der Preisvergabe an de l’Horizon 2022 konnte man im Börsenblatt, dem Fachmagazin des deutschen Buchhandels, nachlesen: „DuMont hat seit Erscheinen im Juli 70.000 Exemplare vom ‚Blutbuch‘ im deutschsprachigen Raum (D-A-CH) ausgeliefert, dabei allein 55.000 Exemplare seit Bekanntgabe des Deutschen Buchpreises, teilen die Kölner am 25. Oktober mit. Man habe bereits 50.000 Stück nachgedruckt.“ Wenn das kein Buchhandelserfolg ist, was dann?

Auf besonders uninformierte Weise wetterte der SZ-Redakteur Hilmar Klute gegen die Jury und insbesondere die Einbeziehung von Buchhändlerinnen: „In den Jurys der Shortlist-Preise sitzen immer auch Buchhändlerinnen; sie sorgen für den merkantilen Zweig der Qualitätsabwägung und, in der literarischen Konsequenz, sorgen sie auch für eine Überkonfektionierung der Literatur.“

Eine der Buchhändlerinnen in der diesjährigen Jury des Deutschen Buchpreises ist Magda Birkmann, die nicht nur im Rowohlt Verlag gemeinsam mit der Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert eine Reihe mit Büchern vergessener Frauen herausgibt, sondern in ihrem Newsletter auch regelmäßig zeigt, wie wenig sie sich um klassische, wie auch immer geartete, Marktkonformität von Literatur schert. Aber dazu hätte Herr Klute eben mehr Arbeit leisten müssen, als bloß die Berufsbezeichnung der Jury-Mitglieder zu checken und sich auf seine klischeehafte Vorstellung von Buchhändlerinnen zu verlassen.

Bei all den vielen Worten, die gerade digital „zu Papier“ gebracht werden, ist es zudem bezeichnend, dass auf die politische Dimension von Hey guten Morgen, wie geht es dir? so gut wie gar nicht verwiesen wird. Denn Hefter verhandelt in dem Text auf intelligente Weise die Fragen nach globaler Ungleichheit und Privilegien.

Und die Pflege, die Juno für ihren an MS erkrankten Partner Jupiter aufbringt, ist angesichts der Tatsache, dass Frauen in Deutschland über 40 Prozent mehr unbezahlter Care-Arbeit als Männer leisten, hochpolitisch. Wieso diese Lesarten des Romans so wenig hervorgehoben werden, kann man sich denken: Sie betreffen eben eine weibliche Dimension politischer Fragen.

Die Vielfalt der Literatur

Gibt es Argumente dafür, dass Clemens Meyer den Buchpreis hätte gewinnen sollen? Natürlich. Genauso gibt es sie für Ronya Othmann und Maren Karmes. Man kann auch argumentieren, dass Markus Thielemanns Vom Norden rollt ein Donner, in dem vom Wolf, der nach Deutschland zurückkehrt, erzählt wird und der als Allegorie auf den wieder erstarkenden Faschismus gelesen werden kann, preiswürdig ist. Gleiches gilt für Iris Wolffs sinnliche und chronologisch rückwärts erzählte Geschichte Lichtungen von einer Freundschaft, die der rumänischen Diktatur entspringt. Und es gibt Argumente, dass Martina Hefter den Preis verdient hat.

Das ist kein Ausdruck der Beliebigkeit des Literaturbegriffs, sondern vielmehr ein Zeichen seiner Vielfältigkeit. Und so ist das individuelle Geschmacksurteil, man halte Die Projektoren für das beste Buch, selbstverständlich nicht problematisch.

Die Debatte, die den fluchenden, sich in zahlreichen Medien beschwerenden Autor in den Mittelpunkt stellt, ist zutiefst misogyn. In ihr wird literarische Qualität bloß als Stellvertreterin für die Verteidigung einer konkreten, stark männlich konnotierten Geniefigur genutzt.

Die Verkörperung dieser Persona macht Meyer aber nicht zum „Systemsprenger“, wie etwa Klute behauptet. Ganz im Gegenteil, Meyer ist einer der großen Profiteure des deutschen Preis- und Fördersystems. Ohne Preisgelder würde es den Autor Clemens Meyer in dieser Form wahrscheinlich nicht geben, weil sich seine Bücher, aus welchen Gründen auch immer, am Markt eben nicht durchsetzen, wie er selbst nicht müde wird zu betonen.

Nele Pollatschek stellt in der Zeit nüchtern fest: In seiner Karriere hat Meyer weit über 80.000 Euro an Preisgeldern erhalten. Alleine dieses Jahr haben ihm die Shortlist des Deutschen Buchpreises, der Lessing-Preis und die Shortlist des Bayrischen Buchpreises 24.500 Euro eingebracht. Mehr, als der Großteil der deutschsprachigen Autor*innen in ihrem Leben an Preisgeldern jemals bekommen wird.

Und apropos Bayrischer Buchpreis; dieser wird am 7. November verliehen. Für ihn sind ebenfalls Clemens Meyer und Martina Hefter sowie Alexandra Stahl mit ihrem Roman Frauen, die beim Lachen sterben nominiert. In der Jury sitzt neben Marie Schoeß (Bayerischer Rundfunk) und Andreas Platthaus auch Cornelius Pollmer. Man darf gespannt sein, welche literarischen Kriterien dann angelegt werden.

Daniel Stähr wurde 1990 in Kühlungsborn (Mecklenburg-Vorpommern) geboren und ist freier Autor, Essayist und Ökonom. Im Frühjahr 2024 erschien sein erstes Sachbuch Die Sprache des Kapitalismus, das er gemeinsam mit dem Literaturwissenschaftler Simon Sahner verfasste