Wannsee-Konferenz 1942: Jedermann gab „fröhlich seine Zustimmung“
Es gibt am 20. Januar 1942 die Konferenz vor der Konferenz – die intime Runde im kleinen Kreis. Unterstaatssekretär Martin Luther vom Auswärtigen Amt (AA) trägt vor. Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), Gestapo-Chef Heinrich Müller und dessen Judenreferent Adolf Eichmann hören zu. Sein Ministerium treibe die „Endlösung der Judenfrage in Europa“ nach Kräften voran, so Luther, die Zeit der internationalen Rücksichtnahme sei vorbei. Man dürfe sich vom Ausland nicht beirren lassen.
Das gewohnte Einvernehmen zwischen Heydrich und dem Auswärtigen Amt – es herrscht ebenso mit anderen Staatssekretären wie höheren SS-Führern, die an diesem Tag in die Villa am Großen Wannsee 56/58 gebeten sind, um in aufgeräumter Stimmung einen Massenmord abzusegnen. Doch muss die „Gesamtlösung der Judenfrage in Europa“, wie es in Heydrichs Einladung steht, nicht mehr beschlossen werden. Sie hat mit Massenerschießungen in den besetzten Gebieten der Sowjetunion längst begonnen. Die Herren am See, viele davon studierte Juristen, kümmern sich um den Feinschliff, die Abstimmung zwischen den von ihnen vertretenen „Generalinstanzen des Reiches“. Unbekümmert und ungerührt wird ein Kolossalverbrechen verhandelt, ein Staat verurteilt ein ganzes Volk zu Qual und Tod.
Das Auswärtige Amt – es residiert in der Berliner Wilhelmstraße unweit der Reichskanzlei – kann sich mancher Vorleistung rühmen. Es gab seit Hitlers Machtantritt keinerlei Dissens, für die „Judenfrage eine radikale Lösung“ zu finden, wie es Emil Schumburg, Judenreferent des AA, im Januar 1939 in einem Memorandum formuliert, das an alle deutschen Botschaften verschickt wird. Es gelte im Ausland „eine antisemitische Welle“ zu fördern. Nachfolger Franz Rademacher reist im Oktober 1941 nach Serbien, um an der Seite des Reichssicherheitshauptamts „Juden-Aktionen“ zu koordinieren.
Was damit gemeint ist, lässt sich der nach dem Krieg aufgetauchten Abrechnung der Reisekosten entnehmen. Als Reisezweck hat Rademacher angegeben: „Liquidation von Juden in Belgrad“. Dazu passt, dass Ernst von Weizsäcker, Staatssekretär in der Wilhelmstraße, 1942 eine Order zur Deportation französischer Juden nach Osten paraphiert. Schließlich ist es den Erhebungen des AA maßgeblich zu verdanken, dass Heydrich seinen Gästen am Wannsee eine Liste mit Zahlen vorlegen kann: „Altreich 131.000, Ostmark 43.700, Frankreich, unbesetztes Gebiet, 700.000, Niederlande 160.000 …“ Unterm Strich: 11.000.000 Menschen, die „in den von uns besetzten und beeinflussten europäischen Gebieten“, wie man in Eichmanns Konferenz-Protokoll nachlesen kann, „der Endlösung zugeführt werden sollen“. Wer bis dahin eifrig über deren Notwendigkeit doziert hat, hält nun inne. Nicht aus Scham oder weil das Gewissen sich meldet. Es bewegt die Sorge, dass man sich übernehmen könnte. Der Kriegsverlauf lässt zu wünschen übrig, seit die Wehrmacht Ende 1941 vor Moskau stecken blieb.
Elf Millionen, das legt ein Rechenexempel nahe, auch wenn sich im Protokoll kein Hinweis darauf findet, dass es angestellt wurde. Es bietet sich trotzdem an. Um die Dimension der „Endlösung“ zu erfassen, kann der Massenmord an jüdischen Bürgern Kiews herangezogen werden, verübt in der Schlucht von Babyn Jar am 29./30. September 1941. Über einen Zeitraum von 36 Stunden wurden dort 33.717 Menschen erschossen. Hochgerechnet auf die geplante Ermordung von elf Millionen europäischer Juden hieße das, man brauchte etwa 11.800 Stunden oder 490 Tage. Voraussetzung: Junge und Alte, Frauen und Kinder werden auch nachts getötet, verscharrt oder verbrannt. Würde das zu lange dauern? Wären mindestens 11.000.000 Schuss Munition nicht zu viel? Mit diesen Fragen war zu rechnen, hätte sich die Runde am Wannsee auf diese Zahlen eingelassen, um dann von Heydrich zu hören, es werde künftig schneller gehen. Gaslaster seien bereits im Einsatz, blieben freilich eine Zwischenlösung. Es entstehe „eine zu große Schweinerei“, wenn man sie leer machen müsse für den nächsten Schub, höre man von SS-Personal.
Tatsächlich sind Anfang 1942 Lager wie Chelmno, Sobibor, Belzec, Treblinka oder Auschwitz-Birkenau und mit ihnen Gaskammern im Bau für den Gebrauch von „Zyklon B“. Es handelt sich um ein Blausäure-Granulat, beim Kontakt mit Luft ein schnell wirkendes, tödliches Gas. Als er vor seinem Prozess 1961 in Jerusalem verhört wird, sagt Adolf Eichmann aus, er habe in seinem Wannsee-Protokoll vermerkt, dass SS-Sturmbannführer Rudolf Lange der Runde berichtete, im Oktober 1941 habe man im Lager Auschwitz an russischen Kriegsgefangenen Versuche mit Zyklon B durchgeführt. Sie seien „besonders vom Gesichtspunkt der Kapazität her sehr vielversprechend gewesen“. In 15 Minuten war alles vorbei. Heydrich habe diese Passage gestrichen und stattdessen an den Rand des Protokolls den Satz geschrieben: „Abschließend wurden die verschiedenen Arten der Lösungsmöglichkeiten besprochen.“ Auch dazu ein Rechenexempel: Im Verlauf des Jahres 1942 zeichnet sich ab, dass mit den Gaskammern in den Vernichtungslagern pro Stunde bis zu 5.000 Menschen getötet werden können, das hieße 15.000 bis 20.000 pro Tag oder 5,5 beziehungsweise 7,3 Millionen pro Jahr.
Eichmann gab in Jerusalem gleichfalls preis, dass „jedermann fröhlich seine Zustimmung“ gab, als am Wannsee der fabrikmäßige Massenmord zur Sprache kam. So monströs die Tat, so entgrenzt die sittliche Verwahrlosung der Täter. Wie der Holocaust an sich sprengt sie die Grenze des Vorstellbaren. Robert Jackson, US-Chefankläger im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46, hatte allen Grund, in seinem Eröffnungsplädoyer von „Untaten“ zu sprechen, die man mit diesem Tribunal verurteilen wolle. Sie seien „so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung“ gewesen, „dass die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen, sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben“. Umso bestürzender ist es, dass sich nach 1945 Teilnehmer der Wannsee-Konferenz zwar vor alliierten, aber kaum vor westdeutschen Gerichten wiederfanden. Im Gegensatz zu ihren Opfern wurden sie zu Überlebenden und Davongekommenen. Dazu zählten Gerhard Klopfer, Staatssekretär in der NSDAP-Parteikanzlei, SS-Gruppenführer Otto Hofmann, Chef des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes, Georg Leibbrandt, Ministerialdirektor im Ostministerium, und Innenstaatssekretär Wilhelm Stuckart, der vorschlug, im Sinne der „Endlösung“ sämtliche „Mischlinge“ zwangsweise zu sterilisieren.
Gerhard Klopfer wird 1946 vom Counter Intelligence Corps der US-Armee in München wegen Kriegsverbrechen verhaftet, aber 1949 aus Mangel an Beweisen freigelassen, er ist danach Steuerberater, später Anwalt und stirbt 1987 in Ulm „nach einem erfüllten Leben zum Wohle aller, die in seinem Einflussbereich waren“, so die Todesanzeige der Südwest Presse. Otto Hofmann verurteilt ein alliiertes Gericht 1948 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 25 Jahren Haft. 1954 begnadigt, lebt er danach als kaufmännischer Angestellter in Baden-Württemberg. Gegen Georg Leibbrandt werden 1950 sämtliche Ermittlungen eingestellt. 1955 ist er Berater von Kanzler Konrad Adenauer für die Rückführung von Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion und leitet das Bonner Büro der Salzgitter AG. Wilhelm Stuckart wird nach alliierter Haft 1950 als „Mitläufer“ eingestuft und im gleichen Jahr Geschäftsführer des Instituts zur Förderung der niedersächsischen Wirtschaft. Aus dem Eichmann-Protokoll geht nirgends hervor, dass die hier Aufgeführten Vorbehalte gegenüber der „Endlösung“ geltend gemacht hätten.
Großer Frieden
Geholfen hat ihnen mutmaßlich der „große Frieden“ mit den Tätern, der nach Gründung der Bundesrepublik 1949 nicht ausgerufen wurde, aber umso mehr galt. Der Publizist und Schriftsteller Ralph Giordano (1923 – 2014), mit seiner teils jüdischen Familie selbst Opfer von NS-Verfolgung, nannte das „die zweite Schuld der Deutschen“. Die Amnesie gegenüber der NS-Vergangenheit hatte verlässliche institutionelle Anker. Obwohl das Auswärtige Amt in die Schoah verstrickt und weniger Mit- als Haupttäter war, kamen zwischen 1949 und 1955 im gehobenen auswärtigen Dienst des westdeutschen Staates 64,3 Prozent aus der Wilhelmstraße. Entsprechend hoch war im Ministerium die Zahl einstiger NSDAP-Mitglieder. „Das ist ein Stachel, der mich bis an mein Ende quält“, sagte Giordano 2011 in einem Interview. „Massenmörder und Schreibtischtäter, an deren Händen das Blut von Millionen klebte, saßen im BND, in den Gerichten und Ministerien, wo man auch hinschaute.“ – Als vor Tagen der 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz begangen wurde, fehlte das Eingeständnis, wie sehr diese „zweite“ eine historische Schuld ist, die Geschichtsfälschern, nicht zuletzt denen von der AfD, Vorschub leistet. Wenn so vieles ungesühnt blieb, kann es doch so schlimm nicht gewesen sein.