Wahlkampffehler von Merz?: Als die Linke plötzlich nachdem oben schoss

Wären nicht zwei, sondern drei Parteien knapp an der Fünfprozenthürde gescheitert, hätten die Union und Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) derzeit womöglich ein paar Probleme weniger. Ohne die Linke im Bundestag hätte es nicht nur eine rechnerische Mehrheit für Schwarz-Rot, sondern auch für Schwarz-Grün gegeben. So hätte die Union vielleicht in den Koalitionsverhandlungen mehr durchsetzen und somit manchen Streit zuletzt vermeiden können, etwa beim Thema Rente.

Nach wie vor beschäftigt die Union also die Frage, ob Merz in der heißen Wahlkampfphase Anfang des Jahres ein Fehler unterlief. Wenige Wochen vor dem Wahltag am 23. Februar wollte der damalige Oppositionsführer in Abstimmungen Asylverschärfungen durchsetzen und nahm dafür Mehrheiten mit der AfD in Kauf, in einem Fall kam es zu einer solchen Mehrheit. Es folgten landesweite Proteste.

Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder, dessen CSU damals die Entscheidung des Kanzlerkandidaten Merz mittrug, bezeichnete das Vorgehen nun in der ARD-Sendung „Caren Miosga“ im Nachhinein als Fehler. „Ich glaube ja“, sagte er auf eine entsprechende Frage, „weil es die linke Seite sehr mobilisiert und die eigene Seite sehr gespalten hat. Viele Bürgerliche waren nicht sicher, ob das richtig ist.“

Linke konnte Gegenposition einnehmen

Er selbst, sagte Söder, habe diesen Fehler direkt erkannt, nachdem der Entschließungsantrag – der Fünf-Punkte-Plan der Union für eine strengere Migrationspolitik – Ende Januar dank der Stimmen der AfD eine Mehrheit fand. „Ich erinnere mich, nach der ersten Abstimmung, als der Geschäftsführer der AfD dann wirklich zähnefletschend, geifernd im Bundestag noch mal hingegangen ist und von einer neuen Zeit gesprochen hat, spätestens dann war jedem klar, dass man möglicherweise der AfD eine Chance gegeben hat, die man so nicht geben wollte“, sagte Söder am Sonntagabend.

Im Zuge der Migrationsabstimmungen gingen viele Menschen auf die Straße
Im Zuge der Migrationsabstimmungen gingen viele Menschen auf die Straßedpa

„Die damalige Entscheidung war eine Entscheidung des Kanzlerkandidaten, die haben wir dann auch alle mitgetragen“, sagte der CSU-Vorsitzende, dessen Partei 2026 bei den Kommunalwahlen in Bayern Zuwächse für die AfD befürchtet. „Es war eine Leitentscheidung – ein Kandidat hat im Wahlkampf immer recht.“

Das deckt sich mit einer Umfrage-Analyse der F.A.Z. von Anfang Februar, die zu dem Schluss kam, dass die zuvor tot geglaubte Linke in jenen Tagen womöglich von der Migrationsdebatte profitiert hat: Nachdem Merz die Migrationsanträge angekündigt hatte, kletterte die Linke plötzlich auf fünf Prozent und mehr – und erhielt am Wahltag 8,8 Prozent.

Der Autor der KAS-Studie, Dominik Hirndorf, sagt: „Ob die Linke nur dank der Migrationsabstimmungen und ihrer Antiposition den Einzug in den Bundestag geschafft hat, kann die Studie so nicht beantworten.“ So habe die Partei auch von anderen – sozialen – Themen profitiert.

Gleichwohl zeige die Untersuchung, dass „der Wahlkampf nachweislich insgesamt einen besonders mobilisierenden Effekt auf die Linken-Wählerschaft“ hatte. „Unsere These ist: Die Betonung der Mi­grationsfrage kurz vor der Bundestagswahl hat die Polarisierung verstärkt. Davon hat die Linke profitiert, indem sie die Gegenposition besetzt hat. Sie war die Partei, die plausibel von sich behaupten konnte, eine Antiposition zur AfD und zu einer restriktiven Migrationspolitik einzunehmen.“

Für die Studie wurden mithilfe des Meinungsforschungsinstituts Ipsos rund drei Monate vor der Bundestagswahl gut 2500 Wahlberechtigte befragt und noch einmal gut 4000 Wahlberechtigte in den Wochen nach der Wahl. Die Daten wurden unter anderem nach sozialstrukturellen Merkmalen gewichtet und sind nach eigenen Angaben repräsentativ.

Union konnte AfD-Sympathisanten nicht überzeugen

„Spannend ist: Das Potential der Linken hatte sich im November 2024 noch nicht angedeutet“, sagt Hirndorf. „Selbst für Grünen-Wähler war die Linke zu diesem Zeitpunkt keine Alternative. Bei der Bundestagswahl konnten sich plötzlich viele Grünen-Wähler vorstellen, alternativ die Linke zu wählen. Und viele Linken-Wähler hätten sich vorstellen können, die Grünen zu wählen. Meine These ist: Bei Letzteren handelt es sich vermutlich um Leute, die im November noch die Grünen wählen wollten, dann aber die Linke gewählt haben.“

Laut der KAS-Studie sahen sich sechs Prozent der Linken-Wähler durch die Migrations- und Flüchtlingspolitik beeinflusst, acht Prozent durch die Migrationsabstimmungen – und 18 Prozent durch den Einfluss der Medien und durch öffentliche Auftritte. „Das deutet auf die Rede von Heidi Reichinnek hin, die viel Aufmerksamkeit erhielt“, sagt Hirndorf. Die bis dahin wenig bekannte Linken-Politikerin hatte Merz vorgeworfen, die Brandmauer einzureißen. Videos ihrer Wutrede erreichten besonders viele Nutzer auf Plattformen wie Tiktok und Instagram.

Dass die Union wiederum nicht von der Migrationsdebatte profitierte, zeigten Angaben der AfD-Wähler, so Hirndorf. So hätten sich im November 2024 noch 22 Prozent von ihnen vorstellen können, auch die Union zu wählen. Nach der Wahl konnten sich das nur noch 13 Prozent der AfD-Wähler vorstellen. „Der Wahlkampf hat scheinbar nicht dazu beigetragen, dass die Union in der AfD-Wählerschaft eine größere Alternative geworden ist“, sagt der Studien-Autor. „Eher im Gegenteil.“

Source: faz.net